14. Das „auserwählte Volk“ der Philosophie
Immanuel Kant als politisch-religiöser Führer der Deutschen
Vorrede
H. St. Chamberlain, dessen Hauptwerk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts 1899 erschien und bis 1942 (mit den Übersetzungen) 31 mal aufgelegt wurde, wurde von Adolf Hitler als Lehrer anerkannt.1 Dass dieses üble Machwerk, das auch den „NS-Ideologen“ Alfred Rosenberg zu seinem Werk Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts inspirierte, weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik einer vernichtenden Kritik unterzogen wurde, so dass es sich zur „Bibel“ der germanischen Weltanschauung und des Rassenantisemitismus entwickeln konnte, wird im allgemeinen mit einem massiven christlichen Antisemitismus erklärt, der sich trotz der Aufklärung in Deutschland gehalten habe. Doch ein genaues Lesen und gründliches Durchdenken der Grundlagen kommt zu einem anderen Ergebnis. Ein wichtiger Grund für die Fehlentwicklung des deutschen Geistes ist bis heute tabu: Chamberlain berief sich auf Kants scheinbar unerschütterliche Autorität, ohne unter Experten einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Es gab im Gegenteil wertvolle Unterstützung von berufener Seite, denn Hans Vaihinger, der Begründer der Als-ob-Theorie in der Ethik, der Herausgeber der Kant-Studien und Verfasser eines Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft, attestierte Chamberlain, sich „mit vollem Recht einen ‚Jünger Kants’ zu nennen“, was Verleger Bruckmann in einem Beiheft zur 2. Auflage der Grundlagen zu zitieren sich nicht entgehen ließ.2
Das war der Durchbruch. Außerdem waren zentrale Thesen der germanischen Weltanschauung, wie die Hervorhebung der welthistorischen Rolle der Germanen, dem Publikum bereits aus Hegels Geschichtsphilosophie vertraut. Hinzu kommt, dass das Herzstück der faschistischen Weltanschauung, wenn auch ohne deutschnationalen Hintergrund, bereits in zwei Schriften Nietzsches aufgetaucht war: In Jenseits von Gut und Böse und in Zur Genealogie der Moral, nämlich die These vom „Sklavenaufstand in der Moral“, der mit den Juden begonnen habe. (JGB 195) Ohne Kants Moralphilosophie wäre Nietzsches „Herrenmoral“ nicht entstanden.
Die Frage dieses Aufsatzes lautet: Hatte Hans Vaihinger Recht, hat sich Chamberlain zu Recht auf Kants Philosophie berufen?
Die gedankliche Gliederung:
1) Ausgangspunkt ist Kants Unterscheidung zwischen „schulmäßigem“ und „geniemäßigem“ Denken, zwischen einem Denken in Begriffen und einem Denken aus dem Gefühl. Leider ist Kant selbst keineswegs konsequent beim begrifflichen Analysieren und Synthetisieren geblieben, sondern hat sich auch einem schwärmerischen Denken hingegeben, so z.B. in seiner Religionsschrift, deren problematische Passagen ich im 9. Aufsatz auf dieser Website analysiert habe.
2) Ich versuche darüber hinaus zu zeigen, dass es zwischen einer Schrift Kants, nämlich der Tugendlehre in seiner Metaphysik der Sitten, genauer: von Kants Ausführungen über das Gewissen in eben dieser Schrift zu Chamberlains Rassenantisemitismus unter Beachtung des oben gezeigten Unterschieds zwischen rein begrifflichem und gefühlsmäßigem oder geniemäßigem Denken einen gedanklich durchaus nachvollziehbaren Übergang gibt.
3) Damit erweist sich Kants Forderung nach „Autonomie des Willens in der Moral“ als verhängnisvoller Gedanke, zumal er an die hohe Abstraktionskraft der deutschen Sprache gebunden ist, was durchaus negative politische Konsequenzen hatte. Nirgends konnte dieser Gedanke seine diabolische Verführungskraft so hemmungslos entfalten wie in der deutschen Kultur.
4) Zur Bestätigung meiner äußerst kritischen Sicht der „Autonomie des Willens in der Moral“ werden zuletzt noch zwei Werke Hegels herangezogen, seine Philosophie der Geschichte und seine Philosophie des Rechts.
1 Chamberlain wird in Mein Kampf (1935, S.296) rühmend erwähnt und in Der Stürmer (1933/2) wird aus dessen Brief an Hitler von 1923 zitiert, in dem dieser den Hoffnungen Ausdruck gab, die er auf seinen Schüler Hitler setzte. Da Hitler später in wichtigen Punkten von seinem Lehrer abwich, stellt sich die Frage, ob er diese Hoffnungen erfüllte. Eine eindeutige Antwort kann es nicht geben, weil Chamberlain 1927 starb.
2 Zitiert bei Claus-Ekkehard Bärsch, Erlösung und Vernichtung, München 1987, S.344; dort finden sich noch ein Dutzend Lobsprüche aus der akademischen und nichtakademischen Welt.
-Ende der Vorrede-
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