| 5. Ein falscher ProphetZum Begriff der politischen Religion an Hand von 
                    Paul de Lagardes
 theologisch-politischen Traktaten
 Zur Kennzeichnung des geistigen Hintergrunds des Nationalsozialismus 
                    und manchmal auch des Bolschewismus werden heute immer häufiger 
                    Begriffe wie politische Religion oder politische 
                    Theologie verwendet.1 Doch wie konnte gerade die christliche Religion in einer protestantischen 
                    Kultur, die von Luthers Zwei-Reiche-Lehre geprägt war, 
                    plötzlich politisch werden? Wie war ein solcher Prozess 
                    im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert überhaupt 
                    möglich? Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, 
                    handelt es sich bei dem Ausdruck politische Religion 
                    um ein bloßes Oxymoron, um die Zusammenstellung zweier 
                    sich widersprechender Begriffe zur rhetorischen Figur. Wer 
                    sich bewusst widersprüchlich ausdrückt, wirkt geistreich 
                    und tief, weil jedes Paradox verblüfft. Er kann auch 
                    einige Fakten anführen, die bei oberflächlicher 
                    Betrachtung für seine These sprechen, wie z.B. das religiöse 
                    Pathos der Reden, die Selbstdarstellung des NS-Regimes auf 
                    den Parteitagen, der Führer- oder Personenkult in beiden 
                    Systemen und Ähnliches.Bohrenden Fragen hält die These von der politischen Religiosität 
                    des Nationalsozialismus allerdings nicht stand. Warum hat 
                    Hitler, wenn er sich angeblich vom Christentum inspirieren 
                    ließ, für die Zeit nach einem militärischen 
                    Sieg eine Christenverfolgung geplant?
 Vielleicht resultieren totalitäre Systeme gar nicht aus 
                    der Religion? Irgendwoher musste sich allerdings auch die 
                    nationalsozialistische Weltanschauung entwickelt haben, sie 
                    konnte nicht aus dem Nichts entstanden sein.
 Paul de Lagarde (1827-1891), der Prophet der Deutschen, 
                    wie er von Wilamowitz genannt wurde, scheint mit seinen Deutschen 
                    Schriften auf den ersten Blick die These der politischen 
                    Religion zu bestätigen, denn er wollte eine neue Nationalreligion 
                    für die Deutschen schaffen und hat mit seinen politischen 
                    Forderungen wesentliche Programmpunkte der Nationalsozialisten 
                    vorweggenommen, bis hin zur Forderung der Judenvernichtung.
 
 
 1 Wie 
                    z.B. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des 
                    Nationalsozialismus, München 1998
 Seite1
 
 Wer sich jedoch von Schlagwörtern wie Deutsche 
                    Religion und von den Bildern der Selbstinszenierung 
                    dieses Regimes auf Parteitagen nicht betören lässt, 
                    sondern in die labyrinthische Höhlen-Existenz dieser 
                    zwiespältigen Existenz hinabsteigt, der findet unter 
                    der Oberfläche in philosophischen Tiefen unerwartete 
                    Zusammenhänge.
 Denn kein Autor kann uns auf die Frage nach der Berechtigung 
                    der Begriffe politische Religion und politische 
                    Theologie besser Auskunft geben, als der schrullige 
                    Gelehrte und Publizist Paul de Lagarde, der seine Deutschen 
                    Schriften oder Schriften für das deutsche Volk im Vorwort theologisch-politische Traktate genannt 
                    hat.
 
 1. Gott und Mensch, 
                    Freiheit und Diktatur
 Lagarde wurde bekannt für seine Forderung nach 
                    einer Religion der Zukunft, nach einer nationalen 
                    Religion. Und dieses Ziel sollte Konsequenzen für 
                    die in Deutschland bestehenden Konfessionen oder Religionen 
                    haben.
 Die erste Frage, welche beantwortet 
                    werden muß, ist die, ob irgend eine der in Deutschland 
                    tatsächlichen bestehenden Religionsgesellschaften so 
                    beschaffen ist, daß wir uns ihrer zu entledigen wünschen 
                    müssen. Die Antwort lautet: sie sind alle miteinander 
                    unerwünscht. (290f.)2Und:
 Will man in Deutschland Religion haben, 
                    so muß man, weil Religion zur unumgänglichen Vorbedingung 
                    ihrer Existenz Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit hat, alle den 
                    fremden Plunder abtun, in welchen Deutschland vermummt 
                    ist, und durch welchen es mehr als durch individuelle Selbsttäuschungen 
                    vor seiner eigensten Seele zum Lügner wird. (285)
 Nun finden sich ähnliche Gedanken wie die Schaffung 
                    einer religiösen Volksgemeinschaft bis hin zur Abschaffung 
                    des Alten Testaments3 bereits 
                    in Hegels theologischen Frühschriften. Lagarde hat diese 
                    nicht gekannt, weil sie erst 1907 veröffentlicht wurden. 
                    Aber das Ziel der religiösen Vereinheitlichung eines 
                    konfessionell gespaltenen Volkes durch eine Vernunftreligion 
                    war schon von Kant angeregt worden, was hier nur angedeutet 
                    werden kann. Da Kant den Juden den Status einer Religionsgemeinschaft 
                    aberkannte, trifft ihn auch eine Mitschuld dafür, dass 
                    sich Lagardes Polemik gegen alle den fremden Plunder 
                    vor allem gegen das Judentum richtete. Dem Propheten 
                    der Deutschen kam im Prozess der Verwandlung des deutschen 
                    Idealismus in eine nationale Ideologie zudem eine Schlüsselstellung 
                    zu, weil er als erster philosophisches Gedankengut ganz entschieden 
                    für das nationale Ziel einsetzte, das erst Hitler kurzfristig 
                    verwirklichen sollte: für die Schaffung von Großdeutschland. 
                    Er war nicht nur ein radikaler Antisemit, sondern auch ein 
                    erklärter 
 
 2 Ich 
                    zitiere Lagardes Deutsche Schriften nach der Ausgabe 
                    von Karl August Fischer, München 1924
 3 Vergl. 
                    Dieter Just, Das gestörte Weltbild, 3. Kapitel
 Seite2
  Feind der Liberalen - Juden 
                    und Liberale seien naturgemäß Bundesgenossen (370) 
                    - und für einen Protestanten erstaunlich, auch ein wütender 
                    Kämpfer gegen den Protestantismus.Fragen wir nach den Mitteln, wie im aufgeklärten neunzehnten 
                    Jahrhundert eine neue Religion zu gründen sei. Woher 
                    käme im Zeitalter der Naturwissenschaften der unerschütterliche, 
                    felsenfeste Glaube etwa an einen Mohammed, um den letzten 
                    der großen Religionsstifter zu nennen, der seine Inspirationen 
                    als Gottes Worte ausgab? Woher nimmt ein Religionsstifter 
                    im Zeitalter des radikalen Zweifels und des Culte du Moi die 
                    göttliche Autorität? Nietzsche hat diese Frage in 
                    Der Gesetzgeber der Zukunft (KSA11/258f.) zu beantworten 
                    gesucht.
 Allgemein teilte man im aufgeklärten 19. Jahrhundert 
                    kaum Lagardes Meinung, Religionen kämen durch Ehrlichkeit 
                    und Wahrhaftigkeit zustande, sondern eher durch frommen Betrug. 
                    Lagarde war als erster deutscher Orientalist ein vergleichender 
                    Religionswissenschaftler. Aus der Wissenschaft konnte die 
                    für einen Religionsstifter erforderliche Autorität 
                    jedoch nicht kommen, und nach der Aufklärung auch nicht 
                    mehr aus der Religion. Lagardes Plädoyer für Ehrlichkeit 
                    und Wahrhaftigkeit deutet vielmehr auf die Aufklärung 
                    selbst als obersten Wert, auf die Philosophie. Dass aber gerade 
                    die philosophischen Lehren, von denen er ausging, zu einer 
                    extrem schädliche Form von Selbstbetrug führen 
                    können, möchte ich in diesem Aufsatz zeigen. Am 
                    Schluss unserer Reflexion wird klar werden, dass Lagarde, 
                    wie schon Kant, auch wenn er den Begriff selbst nicht verwendete, 
                    die Autonomie des Ichs als Hebel einsetzte, um die Einzelnen 
                    aus ihren Kirchen heraus zu brechen und der neuen nationalen 
                    Kirche zuzuführen. So will er die verschiedenen 
                    christlichen oder christlich seinwollenden Religiositäten 
                    versöhnen und sie zu einer einzigen, einzigartigen, 
                    nur in den Personen sich differenzierenden Frömmigkeit 
                    steigern. (470) Der Text bleibt unklar, aber als Erläuterung 
                    könnten vielleicht Sätze dienen wie: In der 
                    neuen Epoche unsrer Geschichte ist unsere Hauptaufgabe die, 
                    möglichst viele Menschen zu Personen, zu Charakteren 
                    zu erziehen. (101) Diese Aufgabe kann nur durch 
                    Rückgreifen auf den echt deutschen Individualismus unsrer 
                    Väter gelöst werden. (102)
 Kündigt sich hier die konservative Revolution eines Moeller 
                    van den Brucks an, die zur Ideologie des Dritten Reiches führte?
 Weiter heißt es:
 Damit ist Eins gefordert: den einzelnen 
                    Menschen wo und soweit irgend möglich in seine Rechte 
                    gegenüber der Welt einzusetzen, möge diese Welt 
                    Formen haben welche sie wolle: alles zu tun, was den Menschen 
                    als einzelnen zur Vollkommenheit bringen kann. (184)
  
                    Seite3
 
 Und:
 .... Je mehr einzelne Deutsche, welche 
                    das auf den letzten Seiten dieser Abhandlung Gesagte anerkennen, 
                    sich zu bilden, das heißt, das in dem ihnen durch Geburt 
                    und Anlage gegebenen Materiale schlummernde Gottesbild herauszuarbeiten 
                    bemüht sind, desto klarer wird uns unser Wesen werden. 
                    Originalität ist überhaupt, weil und wenn ein ethisches 
                    Gut, nichts Angeborenes, sondern etwas Erworbenes: die Forderung 
                    besteht überall, nicht bloß in Deutschland, weil 
                    Gott denselben Gedanken nicht zweimal denkt, also jeder von 
                    Gott gewollte Mensch anders sein muß als sein Nebenmensch... 
                    (280)
 Spätestens hier wird deutlich, warum Lagarde als idealistischer 
                    Denker das Jahr 1945 geistig überlebte. Wer könnte 
                    angesichts des Aufstands der Masse (Ortega y Gasset) 
                    solche Sätze nicht uneingeschränkt befürworten? 
                    Wer jedoch dem Propheten der Deutschen auf den 
                    Leim geht, übersieht, dass dieser zwar auf der einen 
                    Seite die Vermassung leidenschaftlich bekämpfte, andererseits 
                    aber genau diesen Prozess ebenso kräftig gefördert 
                    hat, so dass seine linke Hand nicht wusste, was die rechte 
                    tat, und umgekehrt.Über das Gottesbild wird noch zu reden sein. Hier genüge 
                    vorerst der Hinweis, dass sich alle diese herrlichen Sätze 
                    über den Wert der Persönlichkeit, in denen man den 
                    edlen Kern des deutschen Kulturprogramms sehen könnte, 
                    auch in Hitlers Mein Kampf finden, als ideologische 
                    Grundlage seiner Diktatur.4
 Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
 In Die Religion der Zukunft aus dem Jahre 1878 stellt 
                    Lagarde zunächst eine Abneigung seiner Zeitgenossen gegenüber 
                    den bestehenden Religionen fest. Dann setzt er dazu an, einer 
                    neuen Religion den Weg zu bahnen, wie er meint:
 ... Zu Gott gelangt man nicht durch 
                    die Furcht, nicht durch das Gefühl der Abhängigkeit, 
                    nicht durch den Verstand, nicht durch Fürwahrhalten oder 
                    Glauben, sondern nur durch das Bestreben, besser zu werden, 
                    weil nur dieses auf das Gute hinaus will, das mit Gott eines 
                    und dasselbe ist. Fromm sein heißt, das eigene Leben 
                    und die Geschichte als ein zu einem Ziele dringendes Ganze 
                    verstehn: darum ist die Anerkennung eines Zieles - und ein 
                    solches steckt doch das Ideal - die notwendige Vorbedingung 
                    aller Frömmigkeit.. (251f)
  Das Ideal ist mit dem Guten und dieses wiederum mit Gott 
                    identisch. Lagarde war dem Idealismus Kants und Fichtes verpflichtet, 
                    welche Gott und die Religion ausschließlich in den Dienst 
                    der moralischen Besserung des Menschen stellten. Als Religionsstifter 
                    hat er keine Rolle gespielt; dass er aber die politische und 
                    religiöse Wirklichkeit im Deutschen Reich unerbittlich 
                    an einem Ideal maß, hat ihm in der Weimarer Republik 
                    ein hohes Ansehen verschafft, das bis heute noch nicht ganz 
                    erloschen ist. Selbst Fritz Stern5 
                    bezeugt ihm immer 4 "Die Person ist nicht zu ersetzen; sie ist es besonders dann nicht, wenn sie nicht das mechanische, sondern das kulturell-schöpferische Element verkörpert. So wenig ein berühmter Meister ersetzt werden kann und ein anderer die Vollendung seines halbfertig hinterlassenen Gemäldes zu übernehmen vermag, so wenig ist der große Dichter und Denker, der große Staatsmann und der große Feldherr zu ersetzen... Das weiß am besten der Jude. Gerade er, dessen Größen nur groß sind in der Zerstšrung der Menschheit und ihrer Kultur, sorgt für ihre abgöttische Bewunderung. Nur die Verehrung der Völker für ihre eigenen Geister versucht der als unwürdig hinzustellen und stempelt sie zum 'Personenkult'." Hitler, Mein Kampf (1935) S.387, vergl. auch S.495 "Wert der Persönlichkeit."
 5 Lagardes Kritik an der christlichen Lehre, seine Verhöhnung 
                      des lauen Protestantismus und seine Angriffe auf den politischen 
                      Katholizismus waren mit Recht berühmt... 
                    Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr.- eine 
                    Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern, Stuttgart, 
                    Wien, 1963, S.61.
 Seite4
 wieder seine Hochachtung, obwohl ihm sein Ziel, das deutsche 
                    Volk durch ein Ideal zu vereinen, suspekt sein sollte. 
                    Offenbar ist der Glanz des Wortes Ideal selbst unter kritischen 
                    Intellektuellen noch nicht verblasst. Leider übersieht 
                    Fritz Stern die Abhängigkeit des deutschen Propheten 
                    vom deutschen Idealismus, um vor allem seine theologische, 
                    ja christliche Herkunft zu betonen. Lagarde pflegte zu sagen, er sei in erster Linie Theologe, 
                    beginnt das Kapitel über Lagarde, das die Überschrift 
                    Nationale Religion trägt. Diese nationale 
                    Religion, der neue heroische Glaube, so Stern weiter, 
                    würde eine gereinigte, endlich dem deutschen Wesen angemessene 
                    Version des Christentums sein. Es würde sogar notwendig 
                    sein, einige altheidnische Riten wiederaufleben zu lassen. 
                    (S.73)
 Der letzte Satz macht stutzig; eine neue Version des Christentums 
                    mit einigen neuheidnischen Riten garniert, was sollte das 
                    sein? Stern schreibt über Lagarde:
 Er war ein gefühlsbestimmter Theist, 
                    tiefreligiös, voller Achtung und Verehrung gegenüber 
                    dem Göttlichen, dem Mystischen aufgeschlossen. In Gott 
                    sah er den Schöpfer und Erlöser des Menschengeschlechts... 
                    (ebenda, S.64). Wir werden sehen, dass diese Charakterisierung falsch ist. 
                    Fritz Stern unterschlägt uns z. B. eine lapidare Feststellung 
                    Lagardes aus dem Jahre 1875: Es sagen nicht wenige, das Ideal des deutschen 
                    Volkes sei das christliche Ideal. Ich zweifle nicht an der 
                    subjektiven Wahrhaftigkeit dieser Behauptung: objektiv ist 
                    diese Behauptung völlig unbegründet. (148) Dass sich Lagarde vom Christentum seiner Väter weit 
                    entfernt hat, müsste eigentlich sehr schnell auffallen. 
                    Zunächst sei festgestellt, dass es sich bei ihm um einen 
                    Theologen ganz besonderer Art handelt, der nämlich 
                    immer wieder das Recht des Einzelnen auf seine Freiheit betont, 
                    und zwar, wie wir noch sehen werden, auch gegenüber Gott, 
                    den es im theologischen Sinne in seinen Schriften gar nicht 
                    gibt. Und vielleicht noch verblüffender, das deutsche 
                    Ideal, das alle Deutschen verbinden soll, nimmt bereits eine 
                    monarchische Diktatur vorweg, wie sie später Hitler ohne 
                    Monarchie verwirklicht hat. Es erscheint deshalb paradox, 
                    das autoritäre, ja totalitäre Denken Lagardes aus 
                    einer Philosophie der Freiheit, wie der deutsche Idealismus 
                    auch genannt wurde, abzuleiten. ... Wir haben keine Presse, als eine Parteipresse, 
                    und eine Parteipresse ist ein Institut, dem die Wahrheit vollständig 
                    gleichgültig, dem der Sieg der Partei das allein Erstrebenswerte 
                    ist. Das kann nur dann sich ändern, wenn wir dem Parteiwesen 
                    das Wasser abgraben, und dies geschieht dadurch, daß 
                    wir unsere etwa achtunddreißig gesetzgebenden Versammlungen 
                    aufheben: denn die Parteien würden nicht kämpfen, 
                    wenn sie nicht Orte hätten, in welchen zu siegen lohnt.... 
                    Das kann nur dann sich ändern, wenn wir den Staat als 
                    das ansehen lehren, was er ist, als eine dienende Maschine, 
                    der gegenüber es sich um konservativ, liberal, freisinnig, 
                    katholisch gar nicht, seite5
 
  sondern nur darum handelt, ob sie zu unserer 
                    Zufriedenheit und mit tunlichst geringen Kosten arbeitet, 
                    eine Maschine, deren Beamte wir als Fronknechte in die Reisfelder 
                    senden, wenn sie es je vergessen, daß sie unsere Diener 
                    sind. Das kann nur dann sich ändern, wenn wir die 
                    Kirche gründen helfen, welche unser Volk wiedergebiert, 
                    wenn wir die Monarchie erobern, deren Träger vor Gottes 
                    Augen in Zucht und Denken uns voran leben, und die unter sich, 
                    bis in die Handwerkerhäuser und Bauernhöfe hinein, 
                    möglichst viele fürstlich empfindende Untertanen 
                    haben... (465f.) Hier mischen sich freiheitliche Elemente mit reaktionären. 
                    Die Staatsbeamten seien Diener des Volkes, aber ein Volk gibt 
                    es noch nicht, da noch keine deutsche Nationalkirche existiere. 
                    Also wäre eine institutionelle Sicherung der Volkssouveränität 
                    fehl am Platz, wie auch Lagarde immer wieder betont, würden 
                    Wahlen beim jetzigen Zustand des Volkes, das noch nicht durch 
                    ein Ideal geeint sei, die Volkseinheit nur weiter in 
                    Frage stellen. Jetzt wird der Zusammenhang zwischen seiner 
                    Vorstellung von Freiheit und der Forderung nach einer Diktatur 
                    schon deutlicher. Lagarde will, auch hierin den Nationalsozialismus 
                    vorwegnehmend, nicht nur alle Kirchen und Konfessionen, sondern 
                    auch alle Parteien und Parlamente beseitigen, sieht er doch 
                    in der Tatsache, dass das gesamte politische Leben der Nation 
                    nur in dem Rahmen dieser Parteien sich vollzieht, den 
                    Beweis für eine tödliche Erkrankung unsres Volkes. 
                    (478)Entscheidende Grundlage der deutschen Nationalkirche sei aber 
                    neben der sittlichen Autonomie die wirtschaftliche Selbständigkeit. 
                    Die Untertanen kann er sich nur als Handwerker 
                    und Bauern, nicht etwa als Lohnabhängige vorstellen. 
                    Dies ist die konservative Komponente seiner Revolution.
 ... Ein Volk ist nur frei, wenn es aus 
                    lauter Herren besteht.... Aus Herren bis in die untersten 
                    Schichten der Nation hinab. Die Haus-, Lehr- und Brotherren 
                    - alles gute, alte deutsche Wörter - sind leibliche Brüder 
                    der Fürsten, und stehen und fallen mit diesen, wie diese 
                    mit ihnen stehn und fallen. (142) Bei Lagarde nimmt die Forderung nach der Freiheit des Einzelnen 
                    eine eigentümliche Wende. Die Quelle des Fortschritts 
                    in der Geschichte sei der einzelne Mensch, doziert er 1875 
                    in der Schrift Über die gegenwärtige Lage des 
                    deutschen Reiches. In Versammlungen, also in Parlamenten 
                    habe nicht der Einzelne, sondern nur die Gesamtheit eine Verantwortung, 
                    weshalb er für eine Diktatur plädiert, die allerdings 
                    in parlamentarischen Formen auszuüben sei. 
                    (138f.)Soziologisch lässt sich dieses Umschlagen von radikaler 
                    Freiheit und Selbständigkeit in die Forderung nach einer 
                    Diktatur kaum erklären. 1933 hat zwar ein großer 
                    Teil der wirtschaftlich Selbständigen die Hitler-Diktatur 
                    hingenommen, ja sogar herbeigewünscht, aber ausdrücklich 
                    zur Abwehr einer noch schlimmeren kommunistischen Diktatur, 
                    von der Lagarde um 1870 noch
 nichts geahnt haben konnte.
 seite6
 
 Wir müssen also das Umschlagen von Freiheit in Diktatur 
                    auf einer anderen, tieferen Ebene nachzuvollziehen versuchen.
 2. Das Verhältnis zwischen Politik 
                    und ReligionLagarde hat also nicht nur Hitlers Polemik gegen den 
                    Parlamentarismus vorweggenommen, sondern auch die Praxis eines 
                    gleichgeschalteten Reichstags.6 
                    Sogar in der Außenpolitik konnte sich Hitler auf Lagarde 
                    berufen. Und im folgenden Text zeigt sich das Verhältnis 
                    von Politik und Religion in seiner Weltanschauung am deutlichsten. 
                    Lagarde unterbreitet in einem 1853 gehaltenen Vortrag Über 
                    die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik 
                    zunächst dem Thema entsprechend eine Reihe von politischen 
                    Vorschlägen, die wir hier übergehen, dann wechselt 
                    er überraschend zur Religion, auch wenn er diesen Übergang 
                    zunächst gar nicht vorzuhaben scheint:
 Ich übergehe hier die Hauptarbeit, 
                    die religiöse.... Nur darum bitte ich Sie recht dringend: 
                    denken Sie von der politischen Bedeutung der Religion ja nicht 
                    gering. (27)
 Dennoch kommt er dann auf den jüdischen Rassehochmut 
                    zu sprechen:
 
 ... Die jüdische Religion besteht vielmehr einmal aus 
                    dem festen, allerdings höchst sonderbaren Glauben an 
                    den ungeheuren Wert der eigenen Nationalität - der Dünkel 
                    der großen Nation ist ein unschuldiges Kinderspiel gegen 
                    den jüdischen Rassehochmut - solcher Glaube hilft viel: 
                    sodann besteht sie aus der Überzeugung, daß jeder 
                    Augenblick des Lebens nach einem göttlichen Gebote eingerichtet 
                    werden muß. Diese Gebote dünken uns vielfach äußerst 
                    kindisch, aber sie haben die Juden gewöhnt stets unter 
                    der Zucht zu stehen, stets aufzumerken, stets entsagen zu 
                    können. Und die Kraft der Menschen und der Nationen liegt 
                    in der Zucht und der Opferfähigkeit. Dazu kommt als drittes 
                    die Poesie des jüdischen Kultus, vor allem die Sabbatfeier, 
                    ein wahres Atemholen des inneren Menschen, das allein den 
                    Juden ihr rastloses Leben ertragbar gemacht hat und ertragbar 
                    macht....(29)
 
 Der Monotheismus der Chinesen, Inder, Griechen und Mohammedaner, 
                    so Lagarde weiter, sei das notwendige Ergebnis des Denkens 
                    und im Gegensatz zum jüdischen an sich ohne jeden 
                    ethischen Wert.
 ... Daß die Juden unter allen Umständen 
                    Gottes Gebote tun wollten, das ist ihre Stärke gewesen: 
                    dadurch sind sie erzogen, und durch diese Religions-Erziehung, 
                    nicht durch ihre Rasse oder ihre Erwählung oder den Inhalt 
                    ihrer Religion, sind sie uns furchtbar überlegen. 
                    Die durch die talmudische Schulung der Nation angebildeten 
                    Eigenschaften werden bleiben und wirken, wann der Talmud selbst 
                    vom Undanke seines modern gewordenen Volkes längst vergessen 
                    sein wird. Hier haben Sie einen Beweis für den Nutzen, 
                    den eine nationale Religion einem Volke gewährt. (29f.) 
                   6 Man 
                    vergleiche Hitlers Ausführungen zum Stichwort Mangel 
                    an Verantwortungsgefühl im Parlamentarismus Mein 
                    Kampf (1935) S.85, S.262
 seite7
 
 Nach diesen Ausführungen folgt ein überraschender 
                    und in den Konsequenzen fataler Übergang vom Himmel 
                    der Religion zur Erde der Politik: Ich habe über das, was ich übergehn 
                    zu wollen erklärte, doch wenigstens ein paar Worte gesagt, 
                    kehre aber nun ernstlich vom Himmel zur Erde zurück. 
                    (31) Er fordert dann, ganz im Sinne Hitlers, im Jahre 1852, also 
                    fast zwei Jahrzehnte vor der Reichsgründung, um Deutschland 
                    zu einer Nation durch eine Aufgabe und ein Ideal 
                    zusammenzuführen, Kolonisation im Osten Europas, auch 
                    wenn dies nur durch Krieg möglich sein werde. Und er 
                    bejaht diesen Krieg aus voller Überzeugung, was vor allem 
                    in seiner späten Schrift Über die Klage, daß 
                    der deutschen Jugend der Idealismus fehlt aus dem Jahre 
                    1885 deutlich wird. Das eine Ideal, das Deutschland 
                    einen soll, so Lagarde in dieser späten Schrift, sei 
                    die Menschwerdung Gottes in allen denen, die bereit sind, 
                    ihr Leben auf den Schlachtfeldern zu opfern. Dies ist der 
                    eigentliche Kern seiner nationalen Religion.  Der Übergang von der Autonomie des Menschen zu eisernem 
                    Zwang war nur durch einen gewollten Widerspruch der idealistischen 
                    "Philosophie der Freiheit" möglich geworden. 
                    Der deutsche Idealist verwarf die französische "Freiheit, 
                    alles tun zu können, was einem andern nicht schadet." 
                    (Erklärung der Nationalversammlung vom 6.8.1789)
 Statt Menschenrechten betonte er die Menschenpflichten, 
                    die jeder kraft höherer Einsicht freiwillig zu übernehmen 
                    hatte. So wollte die idealistische Philosophie rechts des 
                    Rheins den Menschen stärker an das Ganze, an die Gemeinschaft, 
                    an das Vaterland binden.
 
 Aber wie erklärt sich dann der Hass dieses Antisemiten 
                    auf die Juden? Hass beruht auf Ressentiments, auf Schwäche, 
                    auf dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Gehasst 
                    wird der Jude, weil er dem deutschen Nichtjuden weit überlegen 
                    ist. Und Lagarde hat dafür eine auf den ersten Blick 
                    merkwürdige Erklärung: Der Jude unterwirft sich 
                    Gottes Gebot. Weil der Nichtjude diese Bereitschaft nicht 
                    mehr hat, ja nach der Philosophie des deutschen Idealismus 
                    gar nicht mehr haben soll, - schließlich hat Kant die 
                    Autonomie des Menschen als apodiktisches Gebot gefordert7 
                    - will der Politiker Lagarde den Schaden ausbügeln, den 
                    der Philosoph Lagarde mit dem überzogenen Freiheitsgedanken 
                    der deutschen Philosophie angerichtet hat und weiter anrichten 
                    wird, weil er sich von Kants Ideal der Autonomie nicht distanzieren 
                    kann.
 Jetzt wird das Umschlagen von Freiheit und Selbständigkeit 
                    in eine moderne Diktatur klar. Der Deutsche soll als Soldat 
                    moralischen Geboten gehorchen, nämlich sein Leben für 
                    die Nation zu opfern.
 
 7 Die Handlung, die mit 
                    der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; 
                    die nicht damit stimmt, ist unerlaubt. Kant, 
                    Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (BA86)
 seite8
 Der Prophet der Deutschen spricht in diesem Zusammenhang 
                    von Menschwerdungen Gottes, (435) womit er einen 
                    Bezug zum christlichen Ideal hergestellt hat. 
                    Dadurch wird auch ein Licht auf das Verhältnis zwischen 
                    Religion und Politik geworfen. Gebote gehen nicht mehr von 
                    Gott, sondern von Menschen, genauer von einem Diktator aus. 
                    Ganz anders als die Diktion von der politischen Religion 
                    unterstellt, wird die Religion nicht zum Träger der Politik, 
                    vielmehr verschlingt umgekehrt die Politik mit Hilfe der Philosophie 
                    alles Religiöse vollständig, um es zu ersetzen. 
                    Der Totalitarismus war keine Religion, auch keine politische 
                    Religion, sondern ein politischer Ersatz für die Religion.Zugleich zeigen sich hier Krise und Niedergang des deutschen 
                    Idealismus. Es ist als hätte Lagarde den kategorischen 
                    Imperativ, dass sich der Einzelne das moralische Gesetz selbst 
                    auferlege, nicht mehr richtig verstanden.
 Lagarde, der erste deutsche Orientalist, hat alle 
                    Register gezogen, das Judentum als etwas Fremdes, Nicht-deutsches 
                    zu entlarven; aber täuschen wir uns nicht: unter Jude 
                    und Jüdisch versteht er, wie manch andere 
                    Denker des deutschen Idealismus auch - ich meine vor allem 
                    Feuerbach8 - das Religiöse 
                    schlechthin, das der aufgeklärte Philosoph 
                    vernichten will, auch die christliche Religion, die zwar nicht 
                    das ganze jüdische Gesetz, aber doch immerhin einen wichtigen 
                    Teil desselben übernommen hat, die Zehn Gebote, wie auch 
                    das Gebot der Sonntagsruhe anstelle der Sabbatruhe, zur Disziplinierung 
                    und Stärkung des Einzelnen.
 Aber hat nicht Lagarde den Namen Gottes so oft im Munde geführt, 
                    dass ihn Fritz Stern tiefreligiös nannte? 
                    Lagardes Gottesbild entsprach, wie im Folgenden gezeigt wird, 
                    nicht dem der Bibel und nicht dem der christlichen Religion, 
                    sondern stammt aus dem deutschen Idealismus, der das Ich 
                    ins Zentrum rückte und Gott nur noch als 
                    Projektionsfläche dieses Ichs stehen ließ. 
                    Manchmal nimmt Lagardes Weltbild geradezu manichäische 
                    Züge an, was seinen Hass auf Hegel erklärt.9
 Auch Religionsstifter Mani war ein Idealist, ein Gnostiker 
                    und Platoniker: Welt und Geschichte seien nicht von Gott, 
                    sondern von einer bösen Gegenmacht hervorgebracht.
 Dazu ein Bekenntnis Lagardes:
 Religion entsteht überall da, wo 
                    Menschenherzen fähig sind, eine Seite des Lebens Gottes 
                    zu erfassen. Gott wird nicht offenbart, sondern seines Daseins 
                    irgend welcher Strahl leuchtet ein, und er tut das, weil die 
                    Menschen gerade nach der Richtung gewendet sind, in welcher 
                    stehend man ihn fassen kann. Der Fromme freut sich an Welt 
                    und Geschichte, weil er in beidem etwas erblickt, was nicht 
                    Welt und Geschichte ist.
 8 Dieter 
                    Just, Das gestörte Weltbild (4.3)
 9 Hegel, 
                    der Philosoph des Preußentums und der Verherrlichung 
                    des Staates, war dem großdeutschen, völkisch denkenden 
                    Lagarde ein Dorn im Auge. (410) Natürlich konnte ein 
                    Vertreter der rechten Opposition im Kaiserreich Hegels berühmte 
                    Sätze aus der Vorrede seiner Rechtsphilosophie nicht 
                    unterschreiben: Was vernünftig ist, das ist wirklich; 
                    und was wirklich ist, das ist vernünftig.
 seite9
 Der Gegensatz zwischen Welt und Geschichte einerseits und 
                    Gott auf der andern Seite wird im nächsten Abschnitt 
                    noch tiefer. Religion entsteht weiter da, wo Menschenherzen 
                    von irgend welchem sie Ängstigenden und Quälenden 
                    frei werden wollen. Gott wird nicht offenbart, sondern irgend 
                    etwas Ungöttliches in der Welt treibt, nachdem Gegenteile 
                    des Ungöttlichen zu greifen, und das ist Gott. Der Mensch 
                    flüchtet vor der Welt und Geschichte zu Gott, weil er 
                    in beiden etwas erblickt, was nicht zu ihm selbst stimmt. 
                    (182f.)Nun wird Religion meist als eine 
                    Bindung an höhere Mächte verstanden, die das Freiheitsbedürfnis 
                    des Menschen einschränkt. Davon ist bei Lagarde nicht 
                    die Rede.
 So ist Religion erstens Freude an Gott und 
                    an seinem Tun, so ist sie zweitens der vollendetste Ausdruck 
                    des Freiheitsbedürfnisse des Menschen. (183) Was in Welt und Geschichte nicht zum Menschen 
                    stimmt, drängt uns zu Gott hin. Gott und der Mensch scheinen 
                    förmlich miteinander zu verschmelzen.  Niemand glaubt noch, daß das höchste 
                    Wesen Befehle vom Himmel gesandt, Anweisungen gegeben habe, 
                    wie das Leben einzurichten sei, wenn es Gott wohlgefällig 
                    sein solle.(183) Aber was bedeutet unter diesen Prämissen 
                    überhaupt noch das Wort Gott? 3. Das Volk als neuer Gott?Wenn man bedenkt, dass die evangelische 
                    Landeskirche Württembergs durch eine strenge Kirchenzucht 
                    - Kartenspielen, Trinken und Huren wurde mit Geldstrafen oder 
                    mehrtägigem Karzer bestraft - den Nationalcharakter 
                    der Schwaben geprägt hat, dann wird zwar niemand diese 
                    Praktik für zeitgemäß halten, dennoch stellt 
                    sich die Frage, ob diese Züchtigungsmittel nicht wesentlich 
                    humaner waren, als die von Lagarde vorgeschlagenen:
 nämlich militärischer Drill, Kriege, Eroberung neuen 
                    Lebensraums.
 Woher nahm der Prophet der Deutschen überhaupt 
                    die Vollmacht, als Einzelner, getragen
 von der Liebe zu seinem Volke, wie er betont, (443) diktatorische 
                    Forderungen in seinen Schriften für das deutsche Volk 
                    zu erheben.
 Schauen wir uns die einzelnen Titel10 
                    an:
 Konservativ? (9), Über die gegenwärtigen 
                    Aufgaben der deutschen Politik (22), Über das Verhältnis 
                    des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion (45), 
                    Drei Vorreden (91), Diagnose (103), Über die gegenwärtige 
                    Lage des Deutschen Reichs (114), Zum Unterrichtsgesetze (195), 
                    Die Religion der Zukunft (251), Die Stellung der Religionsgesellschaften 
                    im Staate (287), Noch einmal zum Unterrichtsgesetze (305), 
                    Die Reorganisation des Adels (326), Gedicht (334), Die Finanzpolitik 
                    Deutschlands (336), Die graue Internationale (358), Programm 
                    für die konservative Partei Preußens (372), Über 
                    die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle 
                    (430), Die nächsten Pflichten deutscher Politik (443), 
                    Gedicht (482). Er schreibt über fast alle nur denkbaren 
                    Themen, wie sie heute von den Redaktionen unserer Zeitungen 
                    von mehreren Mitarbeitern bearbeitet werden, über Religion, 
                    Finanzen, Wirtschaft, Innenpolitik, Soziologie, 
                    Außenpolitik, Strategie, Pädagogik.
 10 
                    In Klammer die Seitenzahlen des 
                    jeweiligen Anfangs.
 seite10
 Er behauptet von sich, lustlos zu schreiben (443), aus Pflichtgefühl, 
                    und der Begriff der Pflicht - man vergleiche Die nächsten 
                    Pflichten deutscher Politik - war sein aus der 
                    idealistischen Philosophie Kants und Fichtes entnommenes Mittel, 
                    selbst den Mächtigsten ins Gewissen zu reden. Was sein 
                    Lust- oder Unlustgefühl beim Schreiben angeht, wirkt 
                    er gemessen an den jüdischen Propheten, an Jesus Christus 
                    oder Mohammed zu nüchtern, zu pedantisch, fast beckmesserisch 
                    kleinlich, es fehlt ihm der dichterische Schwung, der Religionsstifter 
                    auszeichnete. Sein Vorbild ist Fichte, der zuerst in den Reden 
                    an die deutsche Nation den Begriff deutsch definierte. 
                    Deutscher sei, wer deutsch als Muttersprache spricht, und 
                    eine besondere Neigung zur Vaterlandsliebe, also zum Idealismus, 
                    d.h. zu Fichtes Philosophie besitzt. Der Beweis wird nicht 
                    geführt, kann nicht geführt werden, er ist gefühlsmäßig 
                    einfach da, wie Fichte kategorisch behauptet: Übrigens ist hierbei anzumerken, daß 
                    die Entscheidung über diese Frage11 
                    keineswegs auf einer Beweisführung durch Begriffe beruht... 
                    In einem solchem Falle mögen Millionen sagen: es sei 
                    nicht... Und wenn ein Einziger gegen diese Millionen auftritt 
                    und versichert, daß es so sei, so behält er gegen 
                    sie alle recht. Nichts verhindert, daß, da ich nun 
                    gerade rede, ich in dem angegebenen Falle dieser Einzige sei, 
                    der da versichert, daß er aus unmittelbarer Erfahrung 
                    an sich selbst wisse, daß es so etwas, wie deutsche 
                    Vaterlandsliebe gebe... -dann, so Fichte sinngemäß, habe 
                    er Recht, und ..
 Wer dasselbe in sich fühlt, der wird überzeugt werden; 
                    wer es nicht fühlt, kann nicht überzeugt werden. 
                    (9.Rede)
  Und so redete auch Lagarde zunächst, wie er glaubte, 
                    als Einziger. Er war stolz darauf, zwischen allen Stühlen 
                    zu sitzen, keiner Partei und Konfession zugehörig, auch 
                    nicht der herrschenden Monarchie hörig, die bereits dem 
                    Parlamentarismus verfallen sei. Aus der radikalen Position 
                    eines Außenseiters lässt sich nun nicht politisch 
                    wirken. Und dennoch hat sich Lagarde gebieterisch zu nahezu 
                    allen Problemen geäußert und selbst den Mächtigsten 
                    eingeschärft, was ihre Pflicht sei. Gewisse Parallelen 
                    zu Hitler fallen auf, der sich ebenfalls als Genie fühlte, 
                    so in seiner Polemik gegen den Parlamentarismus. 12Wenn aber das Genie auf seiner einsamen Überlegenheit 
                    über die Masse beruht, stellt sich die Frage, wie dieser 
                    einsame Geist seine Isolierung durchbrechen und sein Publikum, 
                    die Masse, sein Volk erreichen konnte.
 11 
                    Nämlich ob die Deutschen 
                    zur Vaterlandsliebe fähig sind, was unten klar wird.
 12 
                    Ist die Unfähigkeit 
                    eines Führers dadurch bewiesen, daß es ihm nicht 
                    gelingt, die Mehrheit eines durch mehr oder minder saubere 
                    Zufälle zusammengebeulten Haufens für eine bestimmte 
                    Idee zu gewinnen? Ja, hat denn dieser Haufe überhaupt 
                    schon einmal eine Idee begriffen, ehe der Erfolg zum Verkünder 
                    ihrer Größe wurde?
 Ist nicht jede geniale Tat auf diese Weise der sichtbare Protest 
                    des Genies gegen die Trägheit der Masse? Mein 
                    Kampf (86)
 seite11
 Und auch hierin hat Lagarde bereits den Führer 
                    des großdeutschen Reiches vorweggenommen. Auch der einsame 
                    Prophet verschmähte keineswegs die allerplumpesten 
                    Mittel demagogischer Rhetorik. Daraus erklären sich seine 
                    häufigen Denkfehler, weil er sich nicht den immanenten 
                    Sachzwängen unterwirft, die in einem bestimmten Bereich 
                    gelten, sondern ständig, ohne einen Gedanken abzuschließen, 
                    das Sachgebiet abrupt wechselt, also z.B. von der Religion 
                    unvermittelt übergeht zur Politik, um so zu Ergebnissen 
                    zu kommen, die jeden Religions- oder Politikwissenschaftler 
                    gelinde gesagt verblüffen. So kommt trotz des trockenen 
                    Stils keine Langeweile auf. Dazu nur ein Beispiel für 
                    seine Art der Argumentation: Alles, was dem Menschen frommt, 
                    sei das Ergebnis eigener Arbeit, beginnt er seinen Aufsatz 
                    über die graue Internationale, worunter er 
                    die Liberalen und die mit ihnen verbündeten Juden bezeichnet. 
                    (358ff.) Er will vor allem im Bereich der höheren Werte 
                    für Bodenständigkeit werben, also dafür alle 
                    den fremden Plunder von Werten, wie die jüdische 
                    Bibel, aus Deutschland zu entfernen. Dazu beginnt er jedoch 
                    mit einer finanzpolitischen Erörterung, in der er völlig 
                    zu Recht den großen Börsenkrach und die Wirtschaftskrise 
                    der siebziger Jahre auf die hohen Summen zurückführt, 
                    die als Kriegsentschädigung Frankreichs ins deutsche 
                    Reich strömten. Dann wird der kühne Analogieschluss 
                    gezogen: Ganz genau wie mit jenem Gelde verhält 
                    es sich nun mit geistigen Gütern. Kein Volk kann 
                    die Grundsätze des politischen Lebens, kann die Ergebnisse 
                    der Weltkultur äußerlich überkommen. (358) Wonach er sofort zur Polemik gegen den Liberalismus überleitet, 
                    der - historisch richtig gesehen - aus dem westlichen Ausland, 
                    aus England und Frankreich und den USA importiertworden war. Kein Wunder, dass er dann alle antijüdischen 
                    Vorurteile aufgreift, wie das Argument, hier liege ein fremde 
                    Religion vor, verbunden mit Geldherrschaft, Wucher etc.
 Nietzsche hat in diesem Zusammenhang in Über Wahrheit 
                    und Lüge im außermoralischen Sinn 2 von einem 
                    Trieb zur Metapherbildung gesprochen, jenem menschlichen 
                    Fundamentaltrieb, der das von der Wissenschaft gezimmerte 
                    Bretterwerk der Begriffe immer wieder einreißt und in 
                    buntem Spiel durcheinanderwirbelt. In gewisser Weise enthemmt 
                    auch Lagarde diesen Trieb, wenn er von der Religion unvermittelt 
                    in die Politik überwechselt, von der Volkswirtschaft 
                    in die Geistesgeschichte.
 Wie ist diese Triebenthemmung zu deuten? Lagarde hat sich 
                    als Wissenschaftler durchaus der strengen Disziplin seines 
                    Faches unterworfen, sonst hätte er darin nichts geleistet. 
                    Aber nebenher schrieb er gewissermaßen zur Entspannung 
                    seine Deutschen Schriften.
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 Es machte ihm offensichtlich Spaß, die von der Wissenschaft 
                    gezogenen engen Grenzen zwischen den einzelnen Fächern 
                    und Disziplinen einzureißen, über den Spezialisten 
                    hinaus wirken zu können, zumal dieser wahrhaft diabolische, 
                    d.h. nach dem Diabolos, dem Durcheinanderwerfer, benannte 
                    Trieb den letzten Rest des Anspruchs großer Philosophen 
                    darstellt, wie ein königlicher Adler über allen 
                    Bereichen der bloßen Wissenschaft, in denen gelehrte 
                    Sklaven sich abquälen, zu schweben.Doch hier gilt es, noch tiefer zu blicken. Verhängnisvoll 
                    war der jähe Wechsel vom Himmel der Religion auf die 
                    Erde der Politik, wie wir oben sahen. Der eigentliche Kern 
                    seines Antisemitismus liegt in der Krise, im Niedergang des 
                    deutschen Idealismus, in der Unfähigkeit, den in der 
                    Tat fast unverständlichen Satz, das Ich lege sich selbst 
                    das allgemeine Sittengesetz auf, wenigstens noch einigermaßen 
                    zu verstehen. Angesichts einer von ihnen selbst entgötterten 
                    Welt - bekannt ist Nietzsches Klage über Gottes Tod, 
                    die meist ohne den Zusatz wir haben ihn getötet13 
                    zitiert wird - riefen die Idealisten nach einer 
                    Diktatur. Nun hat Lagarde, um auf den wichtigsten Punkt noch 
                    einmal von einer anderen Seite her zurückzukommen, hin 
                    und wieder das Wort Gott gebraucht. Aber mit dem folgenden 
                    Gottesbeweis hat er sich selbst porträtiert.
 Wenn irgend etwas für unsere Zeit 
                    charakteristisch ist, so ist es die brutale Tyrannei des Allgemeinen, 
                    dessen, was die alte Kirche Welt nennt, mag diese Welt sich 
                    als Gewohnheit, Mode, Sitte, Kultur, Gesellschaft, Staat, 
                    Kirche verkleiden. Alle anderen Leiden sind verschwindend 
                    gering gegen den Schmerz ein Helot zu sein, nie im Leben auch 
                    nur eine halbe Minute lang sich selbst gehören zu dürfen.Wenn irgend etwas in unserer Zeit erquickend und befreiend 
                    wirkt, so ist es das Dasein - selten genug ist dies Dasein 
                    - origineller, ganz ihren eigenen Weg gehender, von Grund 
                    ihres Herzens mutiger und frommer Menschen, welche nur um 
                    Gottes willen handeln und leben. Wo sonst heutzutage in Deutschland 
                    Freude zu finden wäre, wüßte ich nicht.
 Die Natur ist ein Gegenstand der Wissenschaft geworden: 
                    die Götter und Gott sind aus ihr gewichen,14 
                    und haben ihr Reich an die Gesetze abgetreten. Niemand glaubt 
                    noch, daß das höchste Wesen Befehle vom Himmel 
                    gesandt, Anweisungen gegeben habe, wie das Leben einzurichten 
                    sei, wenn es Gott wohlgefällig sein solle...
 13 Nietzsche, 
                    Fröhliche Wissenschaft 125
 14 Es 
                    kann also keine Rede davon sein, dass Lagarde, wie Fritz Stern 
                    (S.64) behauptet, in Gott den Schöpfer und Erlöser 
                    des Menschengeschlechts gesehen habe, der jedem Menschen und 
                    jeder Nation eine ganz bestimmte Aufgabe zugewiesen habe. 
                    Aus dem von Stern als Beweis zitierten Satz: In der 
                    Geschichte geht neben hellen Geistern auch ein finsterer Geist 
                    um, der Sünde heißt, dessen Spuren überall 
                    zu sehen, dessen Taten auf Schritt und Tritt zu erkennen sind, 
                    folgt, dass Lagarde eben gerade nicht den biblischen Gott, 
                    sondern einen manichäischen bösen Gott als Gott 
                    der Geschichte anerkennt. Der gute Gott ist mit dem idealistischen 
                    Menschen identisch, denn es heißt kurz zuvor: Hat 
                    sich die Menschheit aus der Thierheit, oder hat sie sich aus 
                    einer Menschenkindheit zu der jetzt von ihr eingenommen Daseinsform 
                    emporgearbeitet? Ich behaupte Aus der letzteren...
 Lagarde, Mitteilungen II, Göttingen 1887, S.74
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 Eines ist noch da. Der Wiedergeborene, 
                    welcher um Gottes willen Schande und Elend trägt, Ehre 
                    und Wohlleben verachtet, den Tod nicht fürchtet und zuversichtlich 
                    genug ist, ein ewiges Leben ertragen zu wollen.In ihm ist Gott: an ihm ist Freude und Befreiung. Er 
                    ist der lebendige unter uns wandelnde Beweis des Daseins der 
                    Ewigkeit, des Wirkens der Mächte der Ewigkeit, und zwar, 
                    wie das jedem stille lauschenden Herzen klar werdende Walten 
                    einer die einzelnen Menschen völlig individuell erziehenden 
                    Liebe der einzige Beweis für die Unsterblichkeit der 
                    Seele, so ist das Dasein dieses wiedergeborenen, dieser 
                    persönlichen Erziehung sich hingebenden Menschen der 
                    allereinzigste Beweis für das Dasein des persönlichen 
                    Gottes. Nehmet diese Menschen aus der Welt, so ist alles 
                    dunkel in ihr. (183)
 Die bloße Existenz einzelner Kämpfer 
                    Gottes, wie z.B. Lagardes, ist der einzige Gottesbeweis.Lagarde ist den Weg des einsamen Kämpfers unerschrocken 
                    gegangen. Er hat als erster deutscher Orientalist wertvolle 
                    Arbeit geleistet. Sein politisch-theologisches Wirken hat 
                    uns jedoch ein schlimmes Erbe hinterlassen.
 In der Leidenschaft, mit der seine Freiheitsliebe die brutale 
                    Tyrannei des Allgemeinen oder die Heloten-Existenz verneint, 
                    spaltete sich ganz ähnlich wie bei H. St. Chamberlain15 
                    Kants Gedanke der Autonomie des Willens in der Moral auf. 
                    Was Kant noch verbunden hatte, bricht jetzt auseinander: die 
                    bis zum Narzissmus getriebene Vorstellung einer autonomen 
                    zum Gott erhobenen Persönlichkeit einerseits und das 
                    brutale allgemeine Gesetz der Moral andererseits, 
                    von Lagarde verächtlich mit Worten wie Gewohnheit", 
                    Mode, Sitte, Kultur, Gesellschaft, 
                    Staat, Kirche abgetan. Dass sich hier 
                    eine neue Barbarei ankündigt, liegt auf der Hand.
 Was seine Person angeht, war Lagarde ein sehr schwieriger 
                    Charakter, der sich nicht anpassen konnte. Unverständlich 
                    ist, wie er sich anmaßen konnte, ohne irgendeinen Verbündeten 
                    Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Das Rätsel liegt 
                    darin, dass die Position des Unbequemen, Unangepassten in 
                    einem Land wie Deutschland mit dem Nimbus der Wahrhaftigkeit 
                    verbunden war, weshalb ihm der Ehrentitel eines Propheten der 
                    Deutschen verliehen wurde.
 Man kann diesen Sachverhalt auch anders ausdrücken. Die 
                    radikale Verweigerung jeglicher Anpassung ist ein Ausdruck 
                    von Nihilismus. Aber Lagarde hat sich einem Ideal verschrieben. 
                    Und die Worte Ideal und Gott sind in seinem Denken zu Synonymen 
                    geworden. Ohne dieses Ideal, ohne seinen Gott hätte er 
                    seine Isolation nicht ausgehalten.
 Er empfand wie zur Erholung von den vielen Feindschaften, 
                    in die er sich verstrickte, eine große, romantische 
                    Liebe zum Volk, das er sich allerdings 
                    nach seinem Bilde
 15 Die 
                    Schattenseite des Idealismus (12.2)
 seite14
 schuf und aus lauter Herren (Haus-, Lehr- und Brotherren 
                    etc.) zusammengesetzt vorstellte.Dieses Volk war unerlöst wie Lagarde selbst, in einer 
                    bösen Welt Feinden ausgesetzt, so dass es nicht in einem 
                    großdeutschen Staat zusammenfinden konnte. War das von 
                    Fichte über die deutsche Sprache und über deutsche 
                    Sitte definierte Volk in Wahrheit der Gott des deutschen 
                    Propheten? Dieser war mit dem Gott der Geschichte nicht identisch, 
                    denn dann hätte die nationale Opposition von rechts Hegels 
                    berühmten Satz, das Wirkliche sei das Vernünftige, 
                    wenigstens einigermaßen beherzigen müssen. Doch 
                    Lagardes Liebe zu seinem Volk konnte 
                    dieses nicht so nehmen, wie es damals noch war, nämlich 
                    sehr fromm, nach evangelischer, katholischer oder jüdischer 
                    Konfession.
 Für die Volkssouveränität und für das 
                    Menschenrecht der Religionsfreiheit war in dieser Liebe 
                    kein Platz. Hat Lagarde nicht das Denkmuster einer idealistischen 
                    Diktatur16 geschaffen, das Hitler 
                    nur ins rein Politische umsetzen musste? Wie konnte ein Unangepasster, 
                    völlig Isolierter nicht als Wissenschaftler, - was man 
                    verstehen könnte, sofern ihm eine bahnbrechende Erkenntnis 
                    gelungen wäre - sondern als Politiker mit dem Nimbus 
                    der Wahrhaftigkeit umgeben werden?
 Die Moral aller Gesellschaft lautet, dass Vereinsamung 
                    Schuld sei. (Nietzsche 10/105)
 Von hier ist es zu Nietzsches Kritik des Christentums nicht 
                    weit. Das Christentum hat die moralischen Werte immer scharf 
                    vom sündigen Ich getrennt. Aber die Philosophie Kants 
                    hat beides zusammengemischt. Das Ich lege sich selbst das 
                    Sittengesetz auf. So konnte eine neue Verbindung von moralischen 
                    Werten und unmoralischen Motiven entstehen. Der Heilige als 
                    die mächtigste Spezies. (Nietzsche) Allerdings kannte 
                    schon die Antike diese Verbindung, wie Seneca im 41. seiner 
                    Moralischen Briefe an Lucilius bezeugt:
 Wenn Du einen Menschen erblickst, unerschrocken 
                    in Gefahren, unberührt von Leidenschaften, im Unglück 
                    glücklich, mitten in den Stürmen gelassen, von einer 
                    höheren Ebene die Menschen betrachtend, auf gleicher 
                    die Götter, wird Dich nicht Ehrfurcht vor ihm überkommen? 
                    (Übersetzt von Franz Loretto) Hier scheint keine Spur von christlicher Demut vorhanden 
                    zu sein. Aber die antike Philosophiewar noch von der Notwendigkeit des Dialogs überzeugt. 
                    So finden sich diese Sätze nicht zufällig in einem 
                    Brief. Seneca spricht darin weiter von einer göttlichen 
                    Kraft, die sich in den schwächlichen Körper des 
                    Weisen hinein gesenkt habe.
 16 Man vergleiche meine Darstellung 
                    der Lehre des Dritten Reiches im Kapitel Moeller van den 
                    Bruck in Die Schattenseite des Idealismus
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 Ein so großartiges Ding wie der unerschütterliche 
                    Stoiker könne nicht ohne Stütze der Gottheit bestehen.Erst nachdem der deutsche Idealismus das Ich nicht nur zum 
                    Ursprung der Moral, sondern auch noch zur Grundlage der Erkenntnis 
                    und damit der Wahrhaftigkeit erklärt hatte, konnte sich 
                    die Selbstvergöttlichung des Menschen vollenden, und 
                    zwar ausgerechnet als Kopernikus und Darwin den homo sapiens 
                    längst entthront hatten. Und diese Philosophie blieb, 
                    auch wenn das unsere Philosophen nicht wahrhaben wollen, keine 
                    rein akademische Lehre, sondern hat in Deutschland auch im 
                    Leben gewirkt und selbst unphilosophische Köpfe in ihren 
                    Bann geschlagen. Denn aus dem deutschen Idealismus entwickelte 
                    sich die nationale Ideologie der Deutschen. Kant hat die Autonomie 
                    des Menschen gefordert, um ihn aus der Bevormundung durch 
                    die Kirchen herauszureißen. Das Ziel war ein möglichst 
                    alle Menschen umfassendes Reich der Vernunft. Aber Lagarde 
                    hat nach dem Vorbild von Fichtes Reden an die deutsche 
                    Nation der Philosophie ein nationales Ziel gesetzt: Die 
                    Schaffung von Großdeutschland. Da sich nach der Reichsgründung 
                    nur eine Minderheit diesem Ziel verschrieb, sah er sich in 
                    die Position eines aufgeklärten Monarchen versetzt, der 
                    sein politisches Ziel notfalls auch gegen den Willen der Mehrheit 
                    verfolgen wollte. Wie kaum ein anderer zeigte er deshalb die 
                    Verkörperung einer Synthese der neuen Dreieinigkeit von 
                    Ich (Herrschsucht), Liebe und Wahrhaftigkeit, 
                    christlich gesprochen von Vater, Sohn und Heiligem Geist. 
                    Ich habe zwei der Begriffe in Anführungszeichen gesetzt, 
                    denn wer garantiert, dass sich die ungleichen Elemente in 
                    einer solchen Gedankenverbindung wirklich zu einer höheren 
                    Einheit auflösen? Könnte sich nicht das ursprünglichste 
                    und vitalste der Elemente, das machtlüsterne Ich, die 
                    andern unterwerfen? Die göttliche Autorität der 
                    Gesetzgeber der Zukunft resultierte nicht aus der Religion, 
                    sondern aus der Philosophie, wie ein Blick auf den bereits 
                    erwähnten Aphorismus Nietzsches zeigt, genauer aus der 
                    Egomanie der klassischen deutschen Philosophie. Das Ich erzeugt 
                    sich den Kosmos, und zwar ohne Dialog mit anderen Ichen. 
                    Es ist bezeichnend, dass von Ich kein Plural möglich 
                    ist. Solange die Philosophen noch dachten und nur als Denker 
                    die Welt verändern wollten, bestand die Gefahr einer 
                    Überbewertung des persönlichen Ichs noch nicht. 
                    Jedes vernünftige Wesen war ein solches Ich. Problematisch 
                    wurde es, als Fichte mit den Reden an die deutsche Nation 
                    unmittelbar politisch wirken wollte, d.h. in einem konkreten 
                    Konflikt Partei ergriff und seine Philosophie in den Dienst 
                    der Befreiungskriege stellte.
 
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 Als dann dieses Ich des Denkers unmittelbare politische Kompetenz 
                    beanspruchte, bedeutete die Ablehnung des Dialogs automatisch 
                    das Nein zur Gewaltenteilung und zu jeglicher gesellschaftlichen 
                    Kontrolle. Fichtes Vorschlag, eine deutsche Nationalerziehung 
                    obligatorisch einzuführen, kann nur als diktatorische 
                    Anmaßung gedeutet werden. Politische Wirkung erreichte 
                    die Philosophie des deutschen Idealismus auch im Marxismus, 
                    dessen Ablehnung von Menschenrechten, Gewaltenteilung und 
                    Volkssouveränität bekannt ist. Aber diese Entwicklung 
                    hatte auf der rechten Seite eine Parallele, die bisher kaum 
                    gesehen wurde. Was sich in Fichtes politischen Reden angedeutet 
                    hatte, vollendete sich in der Person Lagardes, der eine geistige 
                    Diktatur errichtete und aus Liebe zu seinem Volk 
                    alle Gegner in Kirchen und Parteien der Verlogenheit bezichtigte.Aber schauen wir einmal genauer hin, welches Niveau die Wahrheit 
                    dieses Diktators eigentlich hatte. Seine kühne These, 
                    mit den liberalen Werten verhalte es sich genauso wie mit 
                    dem französischen Gold, wäre mit der entsprechenden 
                    Leichtigkeit vorgetragen eine gute Lachnummer: Preußen-Deutschland 
                    besiegt Frankreich und verlangt eine hohe Kriegsentschädigung. 
                    Die Franzosen zahlen pünktlich. Aber der unerwartete 
                    Goldsegen löst rechts des Rheins die sogenannte Gründerkrise 
                    aus; also beschuldigen Deutsche die Franzosen eines ganz 
                    gemeinen Imperialismus: Nicht nur Gold, auch geistige 
                    Werte hätten sie den Deutschen aufgedrängt. Vielleicht 
                    hat Lagarde, da einem Propheten nichts Schlimmeres passieren 
                    kann, als die Lachmuskeln zu reizen, - auch Hitler schwebte 
                    nicht ganz ohne Grund immer wieder in der Angst, lächerlich 
                    zu wirken - einen so bierernsten Stil gewählt. Und in 
                    der Tat bleibt einem das Lachen auch im Halse stecken, wenn 
                    man bedenkt, dass sich aus diesen Abfallprodukten deutschen 
                    Geistes das deutsche Verhängnis zusammenbraute.
 Hervorhebungen vom Autor sind fett-kursiv gesetzt.
 Waiblingen, November 2005 seite17
 
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