|  3. Der Untermensch
 Um 1900 ging Nietzsches Stern über ganz 
                    Europa auf. Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass ein Kerbholz-Wort 
                    aus seiner Genealogie der Moral, nämlich Nichts 
                    ist wahr, alles ist erlaubt (GM III 24) keine Spur in 
                    der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen haben 
                    sollte. Hat sich nicht der Nationalsozialismus, haben sich 
                    vielleicht sogar einige Bolschewisten von Nietzsches Nihilismus 
                    führen, bzw. verführen lassen? Doch da türmen 
                    sich enorme Schwierigkeiten auf. Zwar wurden von SS-Leuten 
                    immer wieder markige Nietzsche-Sprüche zitiert, - wie 
                    etwa Was uns nicht umbringt, macht uns stärker 
                    - auch Bolschewisten waren von Nietzsches radikaler Umwertung 
                    aller Werte fasziniert, aber eindeutig konnte der Einfluss 
                    dieser wohl bekanntesten Philosophie des Immoralismus auf 
                    die unmoralischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts bisher 
                    noch nicht nachgewiesen werden. Woran dies u.a. liegt, möchte 
                    ich im Folgenden zeigen.  
                    In Walther Hofers viel benutzter Quellensammlung über 
                    den Nationalsozialismus findet sich ein anstößiger, 
                    ja ekelerregender Text, der an blutiges, irgendwo hervorquellendes, 
                    undefinierbar verschlungenes Gedärm erinnert. Schon der 
                    Titel reizt zu heftigem Widerspruch: Der Untermensch (Aus 
                    dem SS-Hauptamt, 157b). Der Text war offenbar nur für 
                    den internen Gebrauch bestimmt und verspricht deshalb Aufschlüsse 
                    über das Denken des Autors zu liefern. Bezwingen wir 
                    deshalb unseren Widerwillen und schauen genauer hin.  
                  .... So wie die Nacht aufsteht gegen 
                    den Tag, wie sich Licht und Schatten ewig feind sind - so 
                    ist der größte Feind des erdebeherrschenden Menschen 
                    der Mensch selbst. 
                    Der Untermensch - jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete 
                    Naturschöpfung mit Händen, Füßen und 
                    einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz 
                    andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen 
                    hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig, 
                    seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. Im Inneren 
                    dieses Menschen ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser 
                    Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille, primitivste 
                    Begierde, unverhüllteste Gemeinheit, Untermensch - sonst 
                    nichts! 
                    Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt. 
                    - Wehe dem, der das vergißt! 
                    Was diese Erde an großen Werken, Gedanken und Künsten 
                    besitzt - der Mensch hat es erdacht, geschaffen und vollendet, 
                    er sann und erfand, für ihn gab es nur ein Ziel: sich 
                    hinaufzuarbeiten in ein höheres Dasein, das Unzulängliche 
                    zu gestalten, das Unzureichende durch Besseres zu ersetzen. 
                    So wuchs die Kultur. 
                    So wurde der Pflug, das Werkzeug, das Haus. 
                    So wurde der Mensch gesellig, so wurde Familie, so wurde Volk, 
                    so wurde Staat. So wurde der Mensch gut und groß. So 
                    stieg er weit über alle Lebewesen empor. 
                    So wurde er Gottes Nächster! 
                    Aber auch der Untermensch lebte. Er haßte das Werk des 
                    anderen. Er wütete dagegen, heimlich als Dieb, öffentlich 
                    als Lästerer - als Mörder. Er gesellte sich zu seinesgleichen. 
                    Die Bestie rief die Bestie.  
                    Nie wahrte der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe. Denn 
                    er brauchte das Halbdunkle, das Chaos. 
                    Er scheute das Licht des kulturellen Fortschritts. 
                    Er brauchte zur Selbsterhaltung den Sumpf, die Hölle, 
                    nicht aber die Sonne. - 
                    Und diese Unterwelt der Untermenschen fand ihren Führer: 
                    - den ewigen Juden!... 
                  Rückfall in dunkelste mythische Vorzeit, 
                    würde man sagen. Finsterster Dämonenglaube. Eindeutige 
                    Missachtung der Ideale der Moderne, keine Rede von Gleichheit 
                    der Menschen, mit einem Wort: Mittelalter. Man hat schnell 
                    Argumente zusammen, dass sich hier die moderne Rationalität 
                    in eine archaische Bildersprache auflöst und die modernen 
                    Ideale der Humanität mit Füßen getreten werden. 
                    Aber Vorsicht, immerhin ist vom Licht, von der Sonne 
                    die Rede, von Aufklärung also und vom zentralsten 
                    Wert der Moderne, vom kulturellen Fortschritt. Plötzlich 
                    sind wir irritiert.  
                    Sofort fallen uns Reminiszenzen an Nietzsches Zur Genealogie 
                    der Moral auf. Der Jude als Führer des großen 
                    Sklavenaufstands, einer säkularen Erhebung der Masse, 
                    der Herde, der Sklaven, des Pöbels. (GM I,9) Aber es 
                    gibt auch gravierende Unterschiede, die eine gedankliche Abhängigkeit 
                    von Nietzsche zunächst fragwürdig erscheinen lassen. 
                    Doch davon später. 
                    Versuchen wir, die Aussagen dieses Textes mit quasi anatomischem 
                    Interesse zu betrachten. 
                    Hier wird die Menschheit in zwei Gruppen unterteilt, die sich 
                    rein äußerlich, also biologisch überhaupt 
                    nicht voneinander unterscheiden. Keine körperlichen Merkmale 
                    wie Haut- oder Haarfarbe sind entscheidend, sondern die Mentalität, 
                    die Werthaltungen, die sie verkörpern, mit anderen Worten 
                    Geistig-Moralisches. Dies deutet auf ein philosophisches Vorbild. 
                    Wir müssen uns fragen, warum der Untermensch 
                    dem eigentlichen Menschen und Kulturschöpfer so gefährlich 
                    werden kann, dass er dessen große Werke immer wieder 
                    bedroht und gefährdet. Liegt im ständigen Streben 
                    des eigentlichen Menschen nach dem Besseren nicht zugleich 
                    der Kampf, die Schmähung, ja vielleicht sogar der Mord? 
                    Kulturelle Fortschritte wurden niemals ohne Leiden, manchmal 
                    auch nur durch Blutvergießen erreicht, was unser Autor 
                    von Nietzsche hätte lernen kennen. Ich denke an die Reformation, 
                    die mit dem Bauernkrieg eng verbunden war, an die Französische 
                    Revolution mit all ihren schrecklichen Begleiterscheinungen 
                    und an die industrielle Revolution, die in ihren Anfängen 
                    den Arbeitern unermessliches Elend brachte, der Gesellschaft 
                    gewaltsame Streiks und Aufstände. Und die gigantische 
                    Naturzerstörung, die heute den technischen Fortschritt 
                    begleitet und ermöglicht, wird allmählich immer 
                    mehr Zeitgenossen bewusst. 
                    Der ständige Hass des Untermenschen auf die 
                    Werke des Kulturschöpfers lässt sich damit nur mit 
                    einer Abspaltung der negativen Aspekte des Fortschritts 
                    bzw. der Kulturarbeit erklären. 
                    Aber wir fragen uns natürlich, ob der Autor wirklich 
                    nur die Kulturarbeit verteidigen will. 
                    Der menschliche Fortschritt endet nach seiner Vorstellung 
                    nicht zufällig beim Begriff des Staates. Ideen und Organisationen, 
                    die schon damals den Staat in Fragen stellten, wie der Entwurf 
                    eines Völkerbundes oder die sozialistische Utopie von 
                    Absterben des Staates haben in diesem Geschichtsbild keinen 
                    Platz. Doch nur durch eine Beschränkung der staatlichen 
                    Souveränität wäre der Friede zu sichern, der 
                    dem Autor am Herzen zu liegen scheint. 
                    Dieser Text ist im Jahre 1935 entstanden, als sich Hitler 
                    in Friedensbeteuerungen geradezu überschlug. Dennoch 
                    ist undenkbar, dass unsere Autor von den Kriegsvorbereitungen 
                    des Dritten Reiches nichts wusste. Es wird heute noch immer 
                    weitgehend verdrängt, dass Hitler in fast jeder zweiten 
                    Rede vor 1933 mehr ober weniger deutlich vom großen 
                    Ziel des Krieges sprach, auch wenn er es mehrfach mit Wendungen 
                    wie Sicherung des Lebensraums oder großes 
                    völkisches Ringen umschrieb. Die in den Jahren 
                    1933 und 1934 erfolgte Errichtung des totalen Staates hatte 
                    von Anfang an das Ziel, der Regierung alle Mittel an die Hand 
                    zu geben, erfolgreicher als das Kaiserreich einen totalen 
                    Krieg zu führen. Aber damit wird die Funktion des Untermenschen, 
                    dem Kulturschöpfer als Projektionsfläche zu dienen, 
                    noch deutlicher: Wäre vielleicht nicht der Untermensch, 
                    sondern der Kulturschöpfer der Unruhestifter 
                    und eigentliche Zerstörer der Kultur? 
                    Nehmen wir einmal an, unser Autor war so unwissend, dass er 
                    von den Zusammenhängen zwischen Fortschritt und Leiden 
                    nichts ahnte. Dann hatte er dennoch eine Vorstellung von Gott 
                    und von den Juden. Und hier liegt der Schlüssel zu seinem 
                    Denken. Denn der Autor spricht vom ewigen Juden. 
                    Ewig sind nach unserer Vorstellung höchstens die Werte. 
                    Mit den ewigen Werten kann aber nur in Konflikt geraten, wer 
                    auf Nietzsches Spuren die Umwertung aller Werte 
                    will. 
                    Das Gottesbild dieses Autors ist weit von mittelalterlicher 
                    frommer Demut oder Unterwürfigkeit entfernt. Es ist also 
                    nicht von Theologen und nicht vom Geist der Bibel inspiriert. 
                    Was diese Erde an großen Werken, Gedanken und 
                    Künsten besitzt - der Mensch hat es erdacht, geschaffen 
                    und vollendet, er sann und erfand, für ihn gab es nur 
                    ein Ziel: sich hinaufzuarbeiten in ein höheres Dasein, 
                    das Unzulängliche zu gestalten, das Unzureichende durch 
                    Besseres zu ersetzen. 
                   
                  So wuchs die Kultur. 
                    So wurde der Pflug, das Werkzeug, das Haus. 
                    So wurde der Mensch gesellig, so wurde Familie, so wurde Volk, 
                    so wurde Staat. So wurde der Mensch gut und groß. So 
                    stieg er weit über alle Lebewesen empor. 
                    So wurde er Gottes Nächster! 
                   
                  Da ist keine Rede davon, dass das Geheimnis 
                    des Lebens immer noch nicht entschlüsselt ist. Alles 
                    Wertvolle auf Erden sei des Menschen Schöpfung. Hier 
                    wird die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt, wenn 
                    auch vordergründig mit anderem anderen Ausgang. Ich möchte 
                    sie in Luthers Übersetzung wiedergeben: 
                   
                  Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge 
                    und Sprache. Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes 
                    Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst. Und sie sprachen 
                    untereinander: Wohlauf, laß uns Ziegel streichen und 
                    brennen! Und nahmen Ziegel zu Stein, und Erdharz zu Kalk, 
                    und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen 
                    Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß 
                    wir uns einen Namen machen... 
                  In der Moderne, einer von Naturwissenschaft 
                    und Technik geprägten Epoche wurden die Ziegelsteine 
                    durch geniale Entdeckungen ersetzt, aber die Intention war 
                    dieselbe, nämlich mindestens in Augenhöhe zu Gott 
                    aufzusteigen, möglich noch ein bisher über ihn hinaus, 
                    denn die Turmbauer wollten sich einen Namen machen. 
                     
                    Schon Dostojewiski hat die linken Ideologien mit einem umgekehrten 
                    Turmbau zu Babel verglichen, da sie nicht zum Himmel aufsteigen, 
                    sondern den Himmel auf die Erde niederzwingen wollten. Auf 
                    die deutsche nationalistische Rechte passt das Bild vom Turmbau 
                    besser, denn nirgends dokumentiert sich der Stolz und Hochmut 
                    des Menschen um 1900 deutlicher als in der germanischen Weltanschauung. 
                    Der Germane sei der Schöpfer der modernen Wissenschaft 
                    und Technik, er habe die Kultur durch permanenten Fortschritt 
                    auf schwindelerregende Höhe emporgetrieben. Und manch 
                    einer auf dem rechten Spektrum wie H.St. Camberlain, der Erfinder 
                    des Rassenantisemitismus, dachte, jetzt sei es endlich an 
                    der Zeit, die Herrschaft des jüdischen Gottes zu brechen. 
                    Denn waren die Zehn Gebote, dieses Du sollst nicht töten! 
                    in einer Epoche, in der globale Entscheidungen anstanden, 
                    nicht längst veraltet und überholt? Und alle großen 
                    deutschen Denker waren von einem erhabenen Gedanken durchdrungen: 
                    Die Juden und in ihrem Bann die frommen Christen hätten 
                    noch einen allmächtigen Gott verehrt, doch in ihrer Philosophie 
                    sei der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst gekommen, zu 
                    seinem wahren Selbstbewusstsein: Der Mensch, d.h. der Mensch 
                    allgemein, nicht irgend ein Einzelner, nein die Menschheit 
                    sei in Wahrheit Gott. Schon Kierkegaard hat sich über 
                    diese Dreistigkeit der Gattung Mensch empört. 
                    Und hier setzt sich die Geschichte des Turmbaus zu Babel fort, 
                    die in aller Kürze wiedergegeben sei: Der Herr fuhr hernieder, 
                    verwirrte die Sprache der Menschheit, so dass es mit ihrer 
                    Solidarität zu Ende war, und zerstreute sie.  
                    Damit ist jedoch die Geschichte der ersten Hälfte des 
                    zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Die Menschen verstanden 
                    sich nicht mehr und führten Kriege, die schlimmsten, 
                    grausamsten und verlustreichsten ihrer Geschichte, ausgelöst 
                    von Germanen, von Ariern, von Deutschen, 
                    jedenfalls nicht denen, die sich für Untermenschen 
                    hielten. Also träfe der Satz unseres Textes Nie wahrte 
                    der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe in Wahrheit auf 
                    den stolzen Kulturschöpfer zu. 
                    Eine babylonische Sprachverwirrung herrscht bis heute selbst 
                    unter denen noch vor, deren oberste Aufgabe sein sollte, die 
                    Begriffe zu klären, weil wir nur mit klaren Begriffen 
                    philosophiert werden kann. Was bedeutet eigentlich Aufklärung? 
                    Ist sie gleichzusetzen mit Entmachtung Gottes? Oder wäre 
                    Gott nicht die eigentliche Stütze jedes Einzelnen in 
                    finsterer Zeit, wie Kierkegaard lehrte? Dass die Aufklärung 
                    an den Verbrechen des Antisemitismus beteiligt gewesen sein 
                    könnte, ist manchem seit Horkheimer und Adorno dunkel 
                    bewusst. Im Krieg wird die Dialektik der Aufklärung 
                    manifest: aller menschliche Fortschritt in Wissenschaft, Technik 
                    und Wirtschaft dient dann letztlich nur dem einen, barbarischen 
                    Ziel, möglichst viele Menschen auf der gegnerischen Seite 
                    zu töten, ihre Städte einzuäschern, ihre Kunst 
                    zu zerstören. Auch der SS-Mann muss diesen Widerspruch 
                    gesehen haben. Warum projiziert er seine Zerstörungswut 
                    in den ewigen Juden? 
                    Immerhin scheint hier der gravierendste Unterschied zu Nietzsche 
                    Philosophie der Umwertung aller Werte zu liegen. Der 
                    ehrliche Philosoph hatte sich meistens offen zum 
                    Immoralismus und damit zum Krieg bekannt. Nicht Friede 
                    überhaupt, sondern Krieg heißt es im 2. Aphorismus 
                    des Antichrist. Offenbar ist es etwas anderes, mit 
                    gewaltigen Worten die Weltgeschichte zu spalten und etwas 
                    anderes, diese heroische Philosophie in die Praxis umzusetzen. 
                     
                    Hätte der Autor von Der Untermensch und seine 
                    Gesinnungsgenossen mit klarem Kopf gedacht, wäre ihnen 
                    die Unmöglichkeit klar geworden, für diesen Krieg 
                    und für das voraussehbare große Blutvergießen 
                    die Verantwortung zu übernehmen, zumal ihnen in ihrer 
                    aufgeklärten Zeit dabei kein gnädiger Gott helfen 
                    würde. Also hätten sie von diesem verbrecherischen 
                    Vorhaben Abstand nehmen müssen. Aber sie dachten mit 
                    dem Bauch, eine völkische Völlerei im Blick. Und 
                    ein Zurück gab es nicht mehr, das hätte nach Schwäche 
                    und Feigheit ausgesehen. Dennoch blieben die Skrupel. Was 
                    war dann also zu tun?  
                    Eine einfache Erklärung für den Judenhass des Nationalsozialisten 
                    ist die Sündenbock-Metapher. Gemeint ist ein alter jüdischer 
                    Brauch, sich die Sünden der Gemeinde in einem Ziegenbock 
                    gebündelt vorzustellen, der dann die Wüste gejagt 
                    wurde, um stellvertretend für die Gemeinde umzukommen. 
                    Aber schon das Wort Sünde ist ein theologischer 
                    Begriff. Waren die Nationalsozialisten den geltenden Werten 
                    doch noch stärker verhaftet, als sie selbst wahrhaben 
                    wollten? Zeigt nicht gerade die Verkehrtheit des Textes, sein 
                    groteskes Sich-Winden, der Versuch, das Negative, Böse, 
                    das man selbst in großen Stile schon praktizierte oder 
                    wenigstens zu praktizieren vorhatte, in den Feind zu projizieren, 
                    dass die Stimme des Gewissens noch gehört wurde? Damit 
                    ergibt sich ein ganz anderer Zusammenhang zwischen Religion 
                    und Verbrechen als er von Anhängern der Theorie der Politischen 
                    Theologie vermutet wird. Hier handelt es sich nicht 
                    um eine magische Religiosität. Die Vernichtung 
                    der Juden hatte nicht den Charakter einer sakralen Handlung. 
                    Geschweige denn dass Hitler geglaubt hätte, in 
                    einer Spezialbeziehung zum allmächtigen Schöpfer 
                    und Herrn der Vorsehung zu stehen. (Claus-Ekkehard Bärsch, 
                    Die politische Religion des Nationalsozialismus, S.380) Vielmehr 
                    hat selbst einer der größten politische Verbrecher 
                    noch die Stimme des Gewissens gehört. Denn warum musste 
                    sie sonst durch einen brutalen Akt der logischen Verschiebung 
                    zum Verschweigen gebracht werden: Nicht ich bin der 
                    Unruhestifter, der Kriegshetzer, sondern der andere, der innere 
                    Feind, der Vertreter der Gegenrasse, der ewige Jude. 
                    Hier geht es um nichts weniger als um Rechtfertigung, um einen 
                    theologischen Begriff zu verwenden. 
                    Sowohl in Hitlers als auch in Goebbels Äußerungen 
                    finden sich Hinweise, dass die jüdische Gefahr 
                    aus dem Innern drohte. Die Frage lautet nur, warum nicht gleich? 
                    Nach Tucholski hat der Mensch zwei Überzeugungen, eine, 
                    wenns ihm gut geht und eine, wenns ihm schlecht 
                    geht. Letztere sei Religion. Angewandt auf Hitler und die 
                    SS finden wir wohl nur noch Relikte von Gewissen und Religion, 
                    auch wenn deren Wirkungen das Verbrechen nicht mehr unterbanden, 
                    sondern im Gegenteil noch auf die höchste Spitze trieben. 
                    Immerhin wird jetzt verständlich, dass die systematische 
                    Judenvernichtung erst einsetzte, als es der deutschen Wehrmacht 
                    schlecht ging, genauer als der Krieg bereits verloren war, 
                    nämlich nach dem Scheitern des geplanten Blitzkriegs 
                    auf die Sowjetunion, das sich bereits Ende 1941 abzeichnete. 
                    Der Autor dieses Textes hat diese späten Ereignisse mit 
                    einer gewissen Sensibilität schon vorweggenommen. 
                    Kriminologen werden bestätigen, dass ein Verbrechen oft 
                    erst dann im Mord endet, wenn sich angesichts eines verbauten 
                    Rückzugs in normales Verhalten das Gewissen oder konkreter 
                    die Angst vor der Entdeckung meldet. Dann muss das Opfer als 
                    einziger mögliche Zeuge ausgeschaltet werden. Ideengeschichtlich 
                    bedeutet dies aber: Gerade wenn sich eine politische Bewegung 
                    von einer nihilistischen Philosophie verführt auf moralische 
                    Abwege begibt, wird sie bald Gefahr laufen, ihre unmoralische 
                    Tat, wie z.B. die Auslösung eines großen Krieges, 
                    nicht mehr offen verteidigen zu können, was dann zur 
                    Projektion der eigenen Unmoral auf andere, auf innere Feinde 
                    führen könnte und damit zur eigentlichen Kulmination 
                    des Verbrechens. Aber damit scheint die Verbindung zur ursprünglichen 
                    unmoralischen Intention abzureißen. Hitler versuchte 
                    sich in seinem politischen Testament vom 29.4.1945 als wahrer 
                    Pazifist darzustellen. Und die Angst vor der eigenen Courage 
                    zeigt sich auch in Nietzsches letzten Aufzeichnungen. Der 
                    Immoralist, der Umwerter aller Werte, der im Zarathustra 
                    die alten Tafeln der Werte zerbrach - ein Hinweis auf die 
                    Tafeln mit den Zehn Geboten - will plötzlich als Hüter 
                    der Moral dastehen. Denn er verfasste zuletzt den Dionysos-Dithyrambus 
                    Ruhm und Ewigkeit. Darin heißt es: 
                   
                  Schild der Notwendigkeit! 
                    / Ewiger Bildwerke Tafel! / - aber du weißt es ja: / 
                    was Alle hassen, / was allein ich liebe, / dass du 
                    ewig bist! / dass du notwendig bist! / Meine 
                    Liebe entzündet / sich ewig nur an der Notwendigkeit. 
                   
                  Am 30. Dezember 1888, an der Schwelle des geistigen 
                    Zusammenbruchs, schrieb Nietzsche dazu an Köselitz: 
                   Ich habe gestern 
                    mein non plus ultra in die Druckerei geschickt, Ruhm und 
                    Ewigkeit betitelt, jenseits aller sieben Himmel gedichtet. 
                    Es macht den Schluss von Ecce homo. - Man stirbt daran, 
                    wenn mans unvorbereitet liest.  
                   
                    In tiefster Bedrängnis wird der Immoralist seinen unmoralischen 
                    Gott verleugnen, so dass es keine Bekenner einer bösen 
                    Gottheit und keine Propagandisten der Unwahrheit geben wird. 
                    Dies ist der tiefere Grund, warum sich der Einfluss einer 
                    Philosophie des Immoralismus auf die großen politischen 
                    Verbrecher des 20. Jahrhunderts nicht nachweisen lässt, 
                    was aber nicht bedeutet, dass er nicht vorhanden war. 
                  Bleibt zuletzt die Frage, wie die irrationale 
                    Verschiebung auf den Juden möglich wurde. Und hier ist 
                    kein wildes Denken im Spiel, wie wir es von primitiven Naturvölkern 
                    kennen, sondern ein Denkschema, das von aufgeklärten 
                    Europäern entwickelt worden war, die sich selbst als 
                    Speerspitze des geistigen Fortschritts wähnten im Kampf 
                    gegen finsteres Mittelalter, gegen die Theologie und gegen 
                    den jüdischen Gott, nämlich von einigen 
                    deutschen Philosophen. 
                    Ich habe in Das gestörte Weltbild gezeigt, wie 
                    diese Projektion alles Negativen in den Juden, leicht möglich 
                    wurde durch die von der klassischen deutschen Philosophie 
                    bereit gestellte Projektionstheorie: Selbst der 
                    frömmste, gerechteste Jude sei im Grunde genau so grausam 
                    und brutal wie der jüdische Gott, dem er 
                    nach Moses Gebot die Rache überlässt, denn 
                    Gott sei immer nur eine Projektion des menschlichen Herzens. 
                    Dass hier keine verdeckten Wünsche, sondern eine den 
                    Monotheismus konstituierende Denknotwendigkeit vorliegt, sahen 
                    psychologisierende Denker wie Feuerbach und Nietzsche nicht. 
                    Und natürlich muss der alleinige Gott, der alles Geschehen 
                    bewirkt, immer wieder brutal und grausam erscheinen. 
                    In der anerkannten Philosophie stellt zweifellos Nietzsches 
                    Zur Genealogie der Moral den Höhepunkt dieser 
                    psychologisierenden Umwertung dar, werden darin doch die geltenden 
                    Moralwerte auf einen Sklavenaufstand in der Moral, 
                    und d.h. auf die Juden zurückgeführt, auf jenes 
                    priesterlichen Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern 
                    zuletzt nur durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung 
                    zu schaffen wusste. (GM I,7) Das letzte Ziel seiner 
                    sublimen Rachsucht habe Israel, mutmaßt Nietzsche, 
                    den antichristlichen Antisemitismus des Nationalsozialismus 
                    vorwegnehmend, auf dem Umweg des Erlösers 
                    erreicht. (GM I,8) Im Sieg des Christentums wird also der 
                    letzte Triumph einer jüdischen Rache gegen die 
                    Vornehmen, die Gewaltigen, die Herren, 
                    die Machthaber (GM I,7) gesehen. (Vergl. M 205, 
                    GM I, 16, AC 40)  
                    In Antichrist 58 übernehmen die Christen die Rolle 
                    der unheimlichen Rächer. Nietzsches Fluch auf das Christentum 
                    gipfelt in der von Hitler und Himmler übernommenen These, 
                    nicht Germanen und andere Rüpel hätten 
                    den stolzen Bau des römischen Imperiums und damit die 
                    antike Kultur zerstört, um eine neue mittelalterliche 
                    Barbarei zu verbreiten, sondern die Christen. (Vergl. AC 59; 
                    Das gestörte Weltbild (6.1)) 
                  Nun werden die Christen im Text des SS-Mannes 
                    gar nicht erwähnt. Ist dies nicht ein klarer Beweis für 
                    Nietzsches Unschuld wenigsten in diesem Fall? Leider nicht. 
                    Hitler hat zwar für die Zeit nach dem Endsieg eine große 
                    Christenverfolgung geplant, sich aber bis dahin zu einem positiven 
                    Christentum bekannt. Dass ihm hier sein politischer 
                    Instinkt das Richtige riet, wird aus einem Vergleich mit Erich 
                    Ludendorffs Werdegang klar. Ursprünglich war der eigentliche 
                    Chef der Obersten Heeresleitung die stärkste Figur der 
                    völkischen Rechten gewesen. Er wurde jedoch von Hitler 
                    ausgebootet und versank in die Rolle eines unbedeutenden Sektierers, 
                    nicht zuletzt deshalb, weil er ganz im Sinne Nietzsches nicht 
                    nur das Judentum, sondern auch das Christentum als letzte 
                    jüdische Konsequenz offen und ehrlich bekämpfen 
                    wollte. Er nahm eben wörtlich, was Nietzsche in Der 
                    Antichrist 24 schrieb:  
                     
                  Die Juden sind, ebendamit, 
                    das verhängnisvollste Volk der Weltgeschichte: 
                    in ihrer Nachwirkung haben sie die Menschheit dermaßen 
                    falsch gemacht, daß heute noch der Christ antijüdisch 
                    fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische 
                    Konsequenz zu verstehen. 
                   
                    Wenn eine rein geisteswissenschaftliche Interpretation 
                    aus den verschiedenen Diskrepanzen zwischen diesem Text und 
                    Nietzsche Philosophie jegliche Abhängigkeit des Autors 
                    von Nietzsche verneinen zu können glaubt, übersieht 
                    sie den politischen Charakter dieser Aussagen. So empfahl 
                    es sich für die SS natürlich statt von Übermensch 
                    und Mensch eher von Menschen und Untermenschen 
                    zu reden. Es klang doch etwas demokratischer, wenn man von 
                    Nietzsches hohem Podest herunterstieg und zu Menschen 
                    statt zu Übermenschen sprach. Welche Veränderungen 
                    ein Gedanke durchmachen muss, wenn er aus der abstrakten Sphäre 
                    des rein Geistigen aufs politische Forum getragen wird, wo 
                    ein ungeheurer Druck zur Rechtfertigung besteht, ersieht man 
                    daran, dass selbst Kriegstreiber Hitler nach 1933 immer wieder 
                    öffentlich seinen Friedenswillen betonte. Ein Beweis 
                    für einen Sinneswandel ist das nicht. Und dasselbe gilt 
                    für die ursprünglich antichristliche Intention der 
                    völkischen Rechten. Hitler zumindest hatte ein ziemlich 
                    gutes Gespür dafür, was er wo sagen konnte.  
                  Abkürzungen der Werke Nietzsches: 
                    AC Der Antichrist 
                    GM Zur Genealogie der Moral 
                    M Morgenröte 
                  Waiblingen, Oktober 2005 
					
					Ergänzung aus dem Jahre 2015: siehe pdf 
					
					
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