3. Der Untermensch
Um 1900 ging Nietzsches Stern über ganz
Europa auf. Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass ein Kerbholz-Wort
aus seiner Genealogie der Moral, nämlich Nichts
ist wahr, alles ist erlaubt (GM III 24) keine Spur in
der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen haben
sollte. Hat sich nicht der Nationalsozialismus, haben sich
vielleicht sogar einige Bolschewisten von Nietzsches Nihilismus
führen, bzw. verführen lassen? Doch da türmen
sich enorme Schwierigkeiten auf. Zwar wurden von SS-Leuten
immer wieder markige Nietzsche-Sprüche zitiert, - wie
etwa Was uns nicht umbringt, macht uns stärker
- auch Bolschewisten waren von Nietzsches radikaler Umwertung
aller Werte fasziniert, aber eindeutig konnte der Einfluss
dieser wohl bekanntesten Philosophie des Immoralismus auf
die unmoralischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts bisher
noch nicht nachgewiesen werden. Woran dies u.a. liegt, möchte
ich im Folgenden zeigen.
In Walther Hofers viel benutzter Quellensammlung über
den Nationalsozialismus findet sich ein anstößiger,
ja ekelerregender Text, der an blutiges, irgendwo hervorquellendes,
undefinierbar verschlungenes Gedärm erinnert. Schon der
Titel reizt zu heftigem Widerspruch: Der Untermensch (Aus
dem SS-Hauptamt, 157b). Der Text war offenbar nur für
den internen Gebrauch bestimmt und verspricht deshalb Aufschlüsse
über das Denken des Autors zu liefern. Bezwingen wir
deshalb unseren Widerwillen und schauen genauer hin.
.... So wie die Nacht aufsteht gegen
den Tag, wie sich Licht und Schatten ewig feind sind - so
ist der größte Feind des erdebeherrschenden Menschen
der Mensch selbst.
Der Untermensch - jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete
Naturschöpfung mit Händen, Füßen und
einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz
andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen
hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig,
seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. Im Inneren
dieses Menschen ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser
Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille, primitivste
Begierde, unverhüllteste Gemeinheit, Untermensch - sonst
nichts!
Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt.
- Wehe dem, der das vergißt!
Was diese Erde an großen Werken, Gedanken und Künsten
besitzt - der Mensch hat es erdacht, geschaffen und vollendet,
er sann und erfand, für ihn gab es nur ein Ziel: sich
hinaufzuarbeiten in ein höheres Dasein, das Unzulängliche
zu gestalten, das Unzureichende durch Besseres zu ersetzen.
So wuchs die Kultur.
So wurde der Pflug, das Werkzeug, das Haus.
So wurde der Mensch gesellig, so wurde Familie, so wurde Volk,
so wurde Staat. So wurde der Mensch gut und groß. So
stieg er weit über alle Lebewesen empor.
So wurde er Gottes Nächster!
Aber auch der Untermensch lebte. Er haßte das Werk des
anderen. Er wütete dagegen, heimlich als Dieb, öffentlich
als Lästerer - als Mörder. Er gesellte sich zu seinesgleichen.
Die Bestie rief die Bestie.
Nie wahrte der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe. Denn
er brauchte das Halbdunkle, das Chaos.
Er scheute das Licht des kulturellen Fortschritts.
Er brauchte zur Selbsterhaltung den Sumpf, die Hölle,
nicht aber die Sonne. -
Und diese Unterwelt der Untermenschen fand ihren Führer:
- den ewigen Juden!...
Rückfall in dunkelste mythische Vorzeit,
würde man sagen. Finsterster Dämonenglaube. Eindeutige
Missachtung der Ideale der Moderne, keine Rede von Gleichheit
der Menschen, mit einem Wort: Mittelalter. Man hat schnell
Argumente zusammen, dass sich hier die moderne Rationalität
in eine archaische Bildersprache auflöst und die modernen
Ideale der Humanität mit Füßen getreten werden.
Aber Vorsicht, immerhin ist vom Licht, von der Sonne
die Rede, von Aufklärung also und vom zentralsten
Wert der Moderne, vom kulturellen Fortschritt. Plötzlich
sind wir irritiert.
Sofort fallen uns Reminiszenzen an Nietzsches Zur Genealogie
der Moral auf. Der Jude als Führer des großen
Sklavenaufstands, einer säkularen Erhebung der Masse,
der Herde, der Sklaven, des Pöbels. (GM I,9) Aber es
gibt auch gravierende Unterschiede, die eine gedankliche Abhängigkeit
von Nietzsche zunächst fragwürdig erscheinen lassen.
Doch davon später.
Versuchen wir, die Aussagen dieses Textes mit quasi anatomischem
Interesse zu betrachten.
Hier wird die Menschheit in zwei Gruppen unterteilt, die sich
rein äußerlich, also biologisch überhaupt
nicht voneinander unterscheiden. Keine körperlichen Merkmale
wie Haut- oder Haarfarbe sind entscheidend, sondern die Mentalität,
die Werthaltungen, die sie verkörpern, mit anderen Worten
Geistig-Moralisches. Dies deutet auf ein philosophisches Vorbild.
Wir müssen uns fragen, warum der Untermensch
dem eigentlichen Menschen und Kulturschöpfer so gefährlich
werden kann, dass er dessen große Werke immer wieder
bedroht und gefährdet. Liegt im ständigen Streben
des eigentlichen Menschen nach dem Besseren nicht zugleich
der Kampf, die Schmähung, ja vielleicht sogar der Mord?
Kulturelle Fortschritte wurden niemals ohne Leiden, manchmal
auch nur durch Blutvergießen erreicht, was unser Autor
von Nietzsche hätte lernen kennen. Ich denke an die Reformation,
die mit dem Bauernkrieg eng verbunden war, an die Französische
Revolution mit all ihren schrecklichen Begleiterscheinungen
und an die industrielle Revolution, die in ihren Anfängen
den Arbeitern unermessliches Elend brachte, der Gesellschaft
gewaltsame Streiks und Aufstände. Und die gigantische
Naturzerstörung, die heute den technischen Fortschritt
begleitet und ermöglicht, wird allmählich immer
mehr Zeitgenossen bewusst.
Der ständige Hass des Untermenschen auf die
Werke des Kulturschöpfers lässt sich damit nur mit
einer Abspaltung der negativen Aspekte des Fortschritts
bzw. der Kulturarbeit erklären.
Aber wir fragen uns natürlich, ob der Autor wirklich
nur die Kulturarbeit verteidigen will.
Der menschliche Fortschritt endet nach seiner Vorstellung
nicht zufällig beim Begriff des Staates. Ideen und Organisationen,
die schon damals den Staat in Fragen stellten, wie der Entwurf
eines Völkerbundes oder die sozialistische Utopie von
Absterben des Staates haben in diesem Geschichtsbild keinen
Platz. Doch nur durch eine Beschränkung der staatlichen
Souveränität wäre der Friede zu sichern, der
dem Autor am Herzen zu liegen scheint.
Dieser Text ist im Jahre 1935 entstanden, als sich Hitler
in Friedensbeteuerungen geradezu überschlug. Dennoch
ist undenkbar, dass unsere Autor von den Kriegsvorbereitungen
des Dritten Reiches nichts wusste. Es wird heute noch immer
weitgehend verdrängt, dass Hitler in fast jeder zweiten
Rede vor 1933 mehr ober weniger deutlich vom großen
Ziel des Krieges sprach, auch wenn er es mehrfach mit Wendungen
wie Sicherung des Lebensraums oder großes
völkisches Ringen umschrieb. Die in den Jahren
1933 und 1934 erfolgte Errichtung des totalen Staates hatte
von Anfang an das Ziel, der Regierung alle Mittel an die Hand
zu geben, erfolgreicher als das Kaiserreich einen totalen
Krieg zu führen. Aber damit wird die Funktion des Untermenschen,
dem Kulturschöpfer als Projektionsfläche zu dienen,
noch deutlicher: Wäre vielleicht nicht der Untermensch,
sondern der Kulturschöpfer der Unruhestifter
und eigentliche Zerstörer der Kultur?
Nehmen wir einmal an, unser Autor war so unwissend, dass er
von den Zusammenhängen zwischen Fortschritt und Leiden
nichts ahnte. Dann hatte er dennoch eine Vorstellung von Gott
und von den Juden. Und hier liegt der Schlüssel zu seinem
Denken. Denn der Autor spricht vom ewigen Juden.
Ewig sind nach unserer Vorstellung höchstens die Werte.
Mit den ewigen Werten kann aber nur in Konflikt geraten, wer
auf Nietzsches Spuren die Umwertung aller Werte
will.
Das Gottesbild dieses Autors ist weit von mittelalterlicher
frommer Demut oder Unterwürfigkeit entfernt. Es ist also
nicht von Theologen und nicht vom Geist der Bibel inspiriert.
Was diese Erde an großen Werken, Gedanken und
Künsten besitzt - der Mensch hat es erdacht, geschaffen
und vollendet, er sann und erfand, für ihn gab es nur
ein Ziel: sich hinaufzuarbeiten in ein höheres Dasein,
das Unzulängliche zu gestalten, das Unzureichende durch
Besseres zu ersetzen.
So wuchs die Kultur.
So wurde der Pflug, das Werkzeug, das Haus.
So wurde der Mensch gesellig, so wurde Familie, so wurde Volk,
so wurde Staat. So wurde der Mensch gut und groß. So
stieg er weit über alle Lebewesen empor.
So wurde er Gottes Nächster!
Da ist keine Rede davon, dass das Geheimnis
des Lebens immer noch nicht entschlüsselt ist. Alles
Wertvolle auf Erden sei des Menschen Schöpfung. Hier
wird die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt, wenn
auch vordergründig mit anderem anderen Ausgang. Ich möchte
sie in Luthers Übersetzung wiedergeben:
Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge
und Sprache. Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes
Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst. Und sie sprachen
untereinander: Wohlauf, laß uns Ziegel streichen und
brennen! Und nahmen Ziegel zu Stein, und Erdharz zu Kalk,
und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen
Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß
wir uns einen Namen machen...
In der Moderne, einer von Naturwissenschaft
und Technik geprägten Epoche wurden die Ziegelsteine
durch geniale Entdeckungen ersetzt, aber die Intention war
dieselbe, nämlich mindestens in Augenhöhe zu Gott
aufzusteigen, möglich noch ein bisher über ihn hinaus,
denn die Turmbauer wollten sich einen Namen machen.
Schon Dostojewiski hat die linken Ideologien mit einem umgekehrten
Turmbau zu Babel verglichen, da sie nicht zum Himmel aufsteigen,
sondern den Himmel auf die Erde niederzwingen wollten. Auf
die deutsche nationalistische Rechte passt das Bild vom Turmbau
besser, denn nirgends dokumentiert sich der Stolz und Hochmut
des Menschen um 1900 deutlicher als in der germanischen Weltanschauung.
Der Germane sei der Schöpfer der modernen Wissenschaft
und Technik, er habe die Kultur durch permanenten Fortschritt
auf schwindelerregende Höhe emporgetrieben. Und manch
einer auf dem rechten Spektrum wie H.St. Camberlain, der Erfinder
des Rassenantisemitismus, dachte, jetzt sei es endlich an
der Zeit, die Herrschaft des jüdischen Gottes zu brechen.
Denn waren die Zehn Gebote, dieses Du sollst nicht töten!
in einer Epoche, in der globale Entscheidungen anstanden,
nicht längst veraltet und überholt? Und alle großen
deutschen Denker waren von einem erhabenen Gedanken durchdrungen:
Die Juden und in ihrem Bann die frommen Christen hätten
noch einen allmächtigen Gott verehrt, doch in ihrer Philosophie
sei der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst gekommen, zu
seinem wahren Selbstbewusstsein: Der Mensch, d.h. der Mensch
allgemein, nicht irgend ein Einzelner, nein die Menschheit
sei in Wahrheit Gott. Schon Kierkegaard hat sich über
diese Dreistigkeit der Gattung Mensch empört.
Und hier setzt sich die Geschichte des Turmbaus zu Babel fort,
die in aller Kürze wiedergegeben sei: Der Herr fuhr hernieder,
verwirrte die Sprache der Menschheit, so dass es mit ihrer
Solidarität zu Ende war, und zerstreute sie.
Damit ist jedoch die Geschichte der ersten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Die Menschen verstanden
sich nicht mehr und führten Kriege, die schlimmsten,
grausamsten und verlustreichsten ihrer Geschichte, ausgelöst
von Germanen, von Ariern, von Deutschen,
jedenfalls nicht denen, die sich für Untermenschen
hielten. Also träfe der Satz unseres Textes Nie wahrte
der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe in Wahrheit auf
den stolzen Kulturschöpfer zu.
Eine babylonische Sprachverwirrung herrscht bis heute selbst
unter denen noch vor, deren oberste Aufgabe sein sollte, die
Begriffe zu klären, weil wir nur mit klaren Begriffen
philosophiert werden kann. Was bedeutet eigentlich Aufklärung?
Ist sie gleichzusetzen mit Entmachtung Gottes? Oder wäre
Gott nicht die eigentliche Stütze jedes Einzelnen in
finsterer Zeit, wie Kierkegaard lehrte? Dass die Aufklärung
an den Verbrechen des Antisemitismus beteiligt gewesen sein
könnte, ist manchem seit Horkheimer und Adorno dunkel
bewusst. Im Krieg wird die Dialektik der Aufklärung
manifest: aller menschliche Fortschritt in Wissenschaft, Technik
und Wirtschaft dient dann letztlich nur dem einen, barbarischen
Ziel, möglichst viele Menschen auf der gegnerischen Seite
zu töten, ihre Städte einzuäschern, ihre Kunst
zu zerstören. Auch der SS-Mann muss diesen Widerspruch
gesehen haben. Warum projiziert er seine Zerstörungswut
in den ewigen Juden?
Immerhin scheint hier der gravierendste Unterschied zu Nietzsche
Philosophie der Umwertung aller Werte zu liegen. Der
ehrliche Philosoph hatte sich meistens offen zum
Immoralismus und damit zum Krieg bekannt. Nicht Friede
überhaupt, sondern Krieg heißt es im 2. Aphorismus
des Antichrist. Offenbar ist es etwas anderes, mit
gewaltigen Worten die Weltgeschichte zu spalten und etwas
anderes, diese heroische Philosophie in die Praxis umzusetzen.
Hätte der Autor von Der Untermensch und seine
Gesinnungsgenossen mit klarem Kopf gedacht, wäre ihnen
die Unmöglichkeit klar geworden, für diesen Krieg
und für das voraussehbare große Blutvergießen
die Verantwortung zu übernehmen, zumal ihnen in ihrer
aufgeklärten Zeit dabei kein gnädiger Gott helfen
würde. Also hätten sie von diesem verbrecherischen
Vorhaben Abstand nehmen müssen. Aber sie dachten mit
dem Bauch, eine völkische Völlerei im Blick. Und
ein Zurück gab es nicht mehr, das hätte nach Schwäche
und Feigheit ausgesehen. Dennoch blieben die Skrupel. Was
war dann also zu tun?
Eine einfache Erklärung für den Judenhass des Nationalsozialisten
ist die Sündenbock-Metapher. Gemeint ist ein alter jüdischer
Brauch, sich die Sünden der Gemeinde in einem Ziegenbock
gebündelt vorzustellen, der dann die Wüste gejagt
wurde, um stellvertretend für die Gemeinde umzukommen.
Aber schon das Wort Sünde ist ein theologischer
Begriff. Waren die Nationalsozialisten den geltenden Werten
doch noch stärker verhaftet, als sie selbst wahrhaben
wollten? Zeigt nicht gerade die Verkehrtheit des Textes, sein
groteskes Sich-Winden, der Versuch, das Negative, Böse,
das man selbst in großen Stile schon praktizierte oder
wenigstens zu praktizieren vorhatte, in den Feind zu projizieren,
dass die Stimme des Gewissens noch gehört wurde? Damit
ergibt sich ein ganz anderer Zusammenhang zwischen Religion
und Verbrechen als er von Anhängern der Theorie der Politischen
Theologie vermutet wird. Hier handelt es sich nicht
um eine magische Religiosität. Die Vernichtung
der Juden hatte nicht den Charakter einer sakralen Handlung.
Geschweige denn dass Hitler geglaubt hätte, in
einer Spezialbeziehung zum allmächtigen Schöpfer
und Herrn der Vorsehung zu stehen. (Claus-Ekkehard Bärsch,
Die politische Religion des Nationalsozialismus, S.380) Vielmehr
hat selbst einer der größten politische Verbrecher
noch die Stimme des Gewissens gehört. Denn warum musste
sie sonst durch einen brutalen Akt der logischen Verschiebung
zum Verschweigen gebracht werden: Nicht ich bin der
Unruhestifter, der Kriegshetzer, sondern der andere, der innere
Feind, der Vertreter der Gegenrasse, der ewige Jude.
Hier geht es um nichts weniger als um Rechtfertigung, um einen
theologischen Begriff zu verwenden.
Sowohl in Hitlers als auch in Goebbels Äußerungen
finden sich Hinweise, dass die jüdische Gefahr
aus dem Innern drohte. Die Frage lautet nur, warum nicht gleich?
Nach Tucholski hat der Mensch zwei Überzeugungen, eine,
wenns ihm gut geht und eine, wenns ihm schlecht
geht. Letztere sei Religion. Angewandt auf Hitler und die
SS finden wir wohl nur noch Relikte von Gewissen und Religion,
auch wenn deren Wirkungen das Verbrechen nicht mehr unterbanden,
sondern im Gegenteil noch auf die höchste Spitze trieben.
Immerhin wird jetzt verständlich, dass die systematische
Judenvernichtung erst einsetzte, als es der deutschen Wehrmacht
schlecht ging, genauer als der Krieg bereits verloren war,
nämlich nach dem Scheitern des geplanten Blitzkriegs
auf die Sowjetunion, das sich bereits Ende 1941 abzeichnete.
Der Autor dieses Textes hat diese späten Ereignisse mit
einer gewissen Sensibilität schon vorweggenommen.
Kriminologen werden bestätigen, dass ein Verbrechen oft
erst dann im Mord endet, wenn sich angesichts eines verbauten
Rückzugs in normales Verhalten das Gewissen oder konkreter
die Angst vor der Entdeckung meldet. Dann muss das Opfer als
einziger mögliche Zeuge ausgeschaltet werden. Ideengeschichtlich
bedeutet dies aber: Gerade wenn sich eine politische Bewegung
von einer nihilistischen Philosophie verführt auf moralische
Abwege begibt, wird sie bald Gefahr laufen, ihre unmoralische
Tat, wie z.B. die Auslösung eines großen Krieges,
nicht mehr offen verteidigen zu können, was dann zur
Projektion der eigenen Unmoral auf andere, auf innere Feinde
führen könnte und damit zur eigentlichen Kulmination
des Verbrechens. Aber damit scheint die Verbindung zur ursprünglichen
unmoralischen Intention abzureißen. Hitler versuchte
sich in seinem politischen Testament vom 29.4.1945 als wahrer
Pazifist darzustellen. Und die Angst vor der eigenen Courage
zeigt sich auch in Nietzsches letzten Aufzeichnungen. Der
Immoralist, der Umwerter aller Werte, der im Zarathustra
die alten Tafeln der Werte zerbrach - ein Hinweis auf die
Tafeln mit den Zehn Geboten - will plötzlich als Hüter
der Moral dastehen. Denn er verfasste zuletzt den Dionysos-Dithyrambus
Ruhm und Ewigkeit. Darin heißt es:
Schild der Notwendigkeit!
/ Ewiger Bildwerke Tafel! / - aber du weißt es ja: /
was Alle hassen, / was allein ich liebe, / dass du
ewig bist! / dass du notwendig bist! / Meine
Liebe entzündet / sich ewig nur an der Notwendigkeit.
Am 30. Dezember 1888, an der Schwelle des geistigen
Zusammenbruchs, schrieb Nietzsche dazu an Köselitz:
Ich habe gestern
mein non plus ultra in die Druckerei geschickt, Ruhm und
Ewigkeit betitelt, jenseits aller sieben Himmel gedichtet.
Es macht den Schluss von Ecce homo. - Man stirbt daran,
wenn mans unvorbereitet liest.
In tiefster Bedrängnis wird der Immoralist seinen unmoralischen
Gott verleugnen, so dass es keine Bekenner einer bösen
Gottheit und keine Propagandisten der Unwahrheit geben wird.
Dies ist der tiefere Grund, warum sich der Einfluss einer
Philosophie des Immoralismus auf die großen politischen
Verbrecher des 20. Jahrhunderts nicht nachweisen lässt,
was aber nicht bedeutet, dass er nicht vorhanden war.
Bleibt zuletzt die Frage, wie die irrationale
Verschiebung auf den Juden möglich wurde. Und hier ist
kein wildes Denken im Spiel, wie wir es von primitiven Naturvölkern
kennen, sondern ein Denkschema, das von aufgeklärten
Europäern entwickelt worden war, die sich selbst als
Speerspitze des geistigen Fortschritts wähnten im Kampf
gegen finsteres Mittelalter, gegen die Theologie und gegen
den jüdischen Gott, nämlich von einigen
deutschen Philosophen.
Ich habe in Das gestörte Weltbild gezeigt, wie
diese Projektion alles Negativen in den Juden, leicht möglich
wurde durch die von der klassischen deutschen Philosophie
bereit gestellte Projektionstheorie: Selbst der
frömmste, gerechteste Jude sei im Grunde genau so grausam
und brutal wie der jüdische Gott, dem er
nach Moses Gebot die Rache überlässt, denn
Gott sei immer nur eine Projektion des menschlichen Herzens.
Dass hier keine verdeckten Wünsche, sondern eine den
Monotheismus konstituierende Denknotwendigkeit vorliegt, sahen
psychologisierende Denker wie Feuerbach und Nietzsche nicht.
Und natürlich muss der alleinige Gott, der alles Geschehen
bewirkt, immer wieder brutal und grausam erscheinen.
In der anerkannten Philosophie stellt zweifellos Nietzsches
Zur Genealogie der Moral den Höhepunkt dieser
psychologisierenden Umwertung dar, werden darin doch die geltenden
Moralwerte auf einen Sklavenaufstand in der Moral,
und d.h. auf die Juden zurückgeführt, auf jenes
priesterlichen Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern
zuletzt nur durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung
zu schaffen wusste. (GM I,7) Das letzte Ziel seiner
sublimen Rachsucht habe Israel, mutmaßt Nietzsche,
den antichristlichen Antisemitismus des Nationalsozialismus
vorwegnehmend, auf dem Umweg des Erlösers
erreicht. (GM I,8) Im Sieg des Christentums wird also der
letzte Triumph einer jüdischen Rache gegen die
Vornehmen, die Gewaltigen, die Herren,
die Machthaber (GM I,7) gesehen. (Vergl. M 205,
GM I, 16, AC 40)
In Antichrist 58 übernehmen die Christen die Rolle
der unheimlichen Rächer. Nietzsches Fluch auf das Christentum
gipfelt in der von Hitler und Himmler übernommenen These,
nicht Germanen und andere Rüpel hätten
den stolzen Bau des römischen Imperiums und damit die
antike Kultur zerstört, um eine neue mittelalterliche
Barbarei zu verbreiten, sondern die Christen. (Vergl. AC 59;
Das gestörte Weltbild (6.1))
Nun werden die Christen im Text des SS-Mannes
gar nicht erwähnt. Ist dies nicht ein klarer Beweis für
Nietzsches Unschuld wenigsten in diesem Fall? Leider nicht.
Hitler hat zwar für die Zeit nach dem Endsieg eine große
Christenverfolgung geplant, sich aber bis dahin zu einem positiven
Christentum bekannt. Dass ihm hier sein politischer
Instinkt das Richtige riet, wird aus einem Vergleich mit Erich
Ludendorffs Werdegang klar. Ursprünglich war der eigentliche
Chef der Obersten Heeresleitung die stärkste Figur der
völkischen Rechten gewesen. Er wurde jedoch von Hitler
ausgebootet und versank in die Rolle eines unbedeutenden Sektierers,
nicht zuletzt deshalb, weil er ganz im Sinne Nietzsches nicht
nur das Judentum, sondern auch das Christentum als letzte
jüdische Konsequenz offen und ehrlich bekämpfen
wollte. Er nahm eben wörtlich, was Nietzsche in Der
Antichrist 24 schrieb:
Die Juden sind, ebendamit,
das verhängnisvollste Volk der Weltgeschichte:
in ihrer Nachwirkung haben sie die Menschheit dermaßen
falsch gemacht, daß heute noch der Christ antijüdisch
fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische
Konsequenz zu verstehen.
Wenn eine rein geisteswissenschaftliche Interpretation
aus den verschiedenen Diskrepanzen zwischen diesem Text und
Nietzsche Philosophie jegliche Abhängigkeit des Autors
von Nietzsche verneinen zu können glaubt, übersieht
sie den politischen Charakter dieser Aussagen. So empfahl
es sich für die SS natürlich statt von Übermensch
und Mensch eher von Menschen und Untermenschen
zu reden. Es klang doch etwas demokratischer, wenn man von
Nietzsches hohem Podest herunterstieg und zu Menschen
statt zu Übermenschen sprach. Welche Veränderungen
ein Gedanke durchmachen muss, wenn er aus der abstrakten Sphäre
des rein Geistigen aufs politische Forum getragen wird, wo
ein ungeheurer Druck zur Rechtfertigung besteht, ersieht man
daran, dass selbst Kriegstreiber Hitler nach 1933 immer wieder
öffentlich seinen Friedenswillen betonte. Ein Beweis
für einen Sinneswandel ist das nicht. Und dasselbe gilt
für die ursprünglich antichristliche Intention der
völkischen Rechten. Hitler zumindest hatte ein ziemlich
gutes Gespür dafür, was er wo sagen konnte.
Abkürzungen der Werke Nietzsches:
AC Der Antichrist
GM Zur Genealogie der Moral
M Morgenröte
Waiblingen, Oktober 2005
Ergänzung aus dem Jahre 2015: siehe pdf
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