Ich denke - also bin ich nicht (2)
Die Juden als Gegenrasse. Geständnis
eines verrückten Denkers
1. Über Herren- und Sklavenwerte.
Eigentlich enthält die 5 Punkte umfassende Begründung
von Goebbels Antisemitismus schon hinreichend Stoff zur Beantwortung
der in der Überschrift angedeuteten Frage, aber vielleicht
gibt es Interesse an weiteren Hintergrundinformationen. Warum
die Juden in der NS-Weltanschauung als Gegenrasse erscheinen,
lässt sich weder biologisch (darwinistisch) noch durch
eine noch so kritische Analyse christlicher Theologen erklären.
Hass entsteht aus Angst, aus der Vorstellung einer vielleicht
tödlichen Gefahr ausgesetzt zu sein. Und der Antisemitismus
schon der Präfaschisten ging - so grotesk das klingen
mag - von einer wenn auch nur subjektiv vorhandenen extrem
gefährlichen Bedrohung der Herrenwerte durch
die Juden aus, was in Nietzsches Schrift Zur
Genealogie der Moral geradezu in die Augen springt.
Alles, was auf Erden gegen
die Vornehmen, die Gewaltigen, die
Herren, die Machthaber" getan worden ist,
ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden
gegen sie getan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk,
das sich an seinen Feinden und Überwältigern zu-letzt
nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch
einen Akt der geistig-sten Rache Genugtuung zu schaffen
wusste... Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische
Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön =
glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden
Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen
des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht)
festgehalten haben, nämlich die Elenden sind allein
die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein
die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen
sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für
sie gibt es Seligkeit - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen,
ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die
Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr
werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten
sein! (GM I, 7)
Alles hängt davon ab, was Nietzsche unter
den Vornehmen, Gewaltigen, Herren
und Machthabern versteht. Was bedeuten die Anführungszeichen?
Nietzsche wird im allgemeinen vom Vorwurf des Antisemitismus
freigesprochen, er habe in Wahrheit das Christentum, nicht
das Judentum angegriffen. Doch auch als er später im
Antichrist seinen Fluch gegen das Christentum
geschleudert hat, nannte er die Juden das ver- hängnisvollste
Volk der Weltgeschichte. (AC 24)
Seiner Hauptthese aus der Genealogie bleibt er treu
- was angesichts seines aphoris-tischen Denkens erstaunlich
ist, - auch wenn er die Juden durch das
Christentum ersetzt.
Das Christentum hat...
aus dem Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe
geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige
auf Erden, gegen unser Glück auf Erden... Der Aristokratismus
der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge
am unterirdischsten untergraben... AC 43
In Nietzsches Philosophie erscheint uns
eine verkehrte Welt: Die Massen, die Herde, die Juden, die
(christlichen) Priester gefährden die Mächtigen,
Vornehmen und Reichen. Die Schwachen erweisen
sich als Existenzbedrohung für die Starken,
als ob z.B. die französische Aristokratie 1789 durch
das Christentum zugrunde gegangen sei und die katholische
Geistlichkeit nicht den ersten Stand im Ancien Régime
gebildet hätte. 1
Es gibt noch mehr Hinweise für die Verkehrtheit
des Weltbilds dieses unpolitischen Philosophen: - Aber
was reden Sie noch von vornehmeren Idealen! Fügen
wir uns in die Tatsachen: das Volk hat gesiegt - oder die
Sklaven oder der Pöbel oder die
Herde oder wie Sie es zu nennen belieben - wenn dies
durch die Juden geschehen ist, wohlan! So hatte nie ein Volk
eine welthistorischere Mission. Die Herren sind
abgetan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt.
(GM I,9)
Als die Genealogie im Jahre 1887 erschien,
gab es im Deutschen Reich zwar schon das allgemeine Wahlrecht,
aber die Volkssouveränität war noch nicht verwirklicht.
Die Sozialdemokratie litt unter den Verfolgungen des Sozialistengesetzes.
Wie kann da Nietzsche vom Sieg des Volkes oder
des Pöbels sprechen? Was bedeuten auch hier
die Anführungszeichen um alle diese Begriffe? Vor allem
in einem Punkt widerspricht Nietzsches Weltbild fast diametral
den Erfahrungen aller Revolutionäre seiner Zeit, nämlich
mit seiner in ständig überspitzter Form vorgetragenen
These, das Christentum sei revolutionär, Christentum
sei in Wahrheit Revolution, ja Anarchie, als ob Paulus niemals
das Wort ausgesprochen hätte. Seid untertan der
Obrigkeit, denn jede Obrigkeit ist von Gott. (Röm13)
Dazu die eher noch ausgewogene Kritik des Theologen und Kirchenhistorikers
Franz Overbeck zum Antichrist:
Insbesondere scheint mir Nietzsches Auffassung
des Christentums sozusagen zu politisch und die Gleichung
Christ = Anarchist auf einer historisch sehr bedenklichen
Schätzung dessen, was das Christentum der Realität
nach im römischen Reich gewesen ist, zu beruhen. (KSA
14/441)
1
Dies ist nur eine der vielen Bruchstellen
in seinem Weltbild. 1888 erscheint ihm die fran-zösische
Revolution als Tochter und Fortsetzerin des Christentums;
sie strich nämlich den Priester aus, der auf der Seite
der Vornehmen erscheint. KSA 13/396
Vielleicht liegt der Fehler an uns, dass wir Nietzsche zu
politisch lesen. Vielleicht liegt unter der politischen Ebene
eine andere, tiefere. Zwar gibt es, wenn wir die Begriffe
wie Aristokratie, Volk oder Pöbel politisch oder soziologisch
fassen, einige Hinweise, die diese Deutung zu unterstützen
scheinen, so dass z.B. von der Grausamkeit und Lüsternheit
dieser Mächtigen gesprochen wird, also von ihrer Unmoral.
Aber sehen wir genauer hin; im zweiten Text aus dem Antichrist
wird vom Aristokratismus der Gesinnung gesprochen
und damit eine moralische Kategorie eingeführt. Und in
der Genealogie ist von vornehmeren Idealen
die Rede, die von der Moral des kleinen Mannes
besiegt worden seien. Die Gefährdung dieser Mächtigen,
d.h. dieses Aristokratismus der Gesinnung, durch
den Juden oder durch das Christentum, bzw. durch die Seelengleichheitslüge
lässt sich aus der Entwicklung von Nietzsches Denken
nachvollziehen. Die zentrale Vorstellung - so eine vorläufige
Hypothese - scheint die uns von Kant bekannte Autonomie des
Willens zu sein, die die Herren, die Mächtigen
vor dem Pöbel, vor den Sklaven, dem Volk
auszeichnet. Im folgendem gebe ich neben der Nummer des Aphorismus
in der KGW auch die Seitenzahl und die Zeilenzahl im 10. Band
der KSA an:
In KGW VII 7(1) heißt es:
Zum Plane. (235/10) ... Motive der Ehrlichkeit
usw. liegen in den Antrieben der Mächtigen: in derselben
Sphäre wächst auch die Emanzipation von
der Moral. (235/16ff.)
Unverantwortlichkeit positiv wenden: wir wollen unser Bild
vom Menschen durchsetzen. Daß mans kann!
- ist die Sache! Wer sich unterworfen fühlt,
gehört in die niedere Ordnung. Es muss Sklaven
geben... (235/19ff.)
Man will zu einer Ethik: und weil man vom Egoismus aus sie
nicht glaubt finden zu können, flüchtetman zur
Autorität, zum Herkommen....(236/7ff.)
So wie wir sind - so werden wir widerspenstig bei einem du
sollst. Unsere Moral muß heißen ich
will. (236/25f.)
In der Sphäre der Mächtigen entsteht
die Emanzipation von der Moral. Über den Sklaven,
die sich unterworfen fühlen, existiert offenbar eine
Herrenschicht der Immoralisten.
Und dennoch scheint Kants Lehre von der Autonomie des Willens
in der Moral herein zu spielen. Das Ich ist widerspenstig
bei einem du sollst, es will keiner Autorität
gehorchen, sondern sich die Moral selbst auferlegen. Ich
will, so soll offenbar ein Weg vom Egoismus zur Moral
gefunden werden. Eine weitere Aufzeichnung - VII 7(21) - unterstreicht
noch einmal den Immoralismus der Herren:
Meine Forderung: Wesen hervorzubringen, welche über
der ganzen Gattung Mensch erhaben dastehen: und
diesem Ziele sich und die Nächsten zu opfern.
(244/7ff.)
Die bisherige Moral hatte ihre Grenzen innerhalb der Gattung:
alle bisherigen Moralen waren nützlich, um der Gattung
zuerst unbedingte Haltbarkeit zu geben: wenn diese
erreicht ist, kann das Ziel höher genommen werden. (244/10ff.)
Die eine Bewegung ist unbedingt: die Nivellierung der
Menschheit, große Ameisen-bauten...(244/14f.) Die andere
Bewegung: meine Bewegung: ist umgekehrt die Verschärfung
aller Gegensätze und Klüfte, Beseitigung der Gleichheit,
das Schaffen Über-Mächtiger. (244/18ff.) Jene
erzeugt den letzten Menschen. Meine Bewegung den Übermenschen.
(244/21f.)
Wenn Kant das einmalig Individuelle und das
Allgemeine mit der Vorstellung, das Ich lege sich das allgemeine
Sittengesetz selbst auf, zusammenfügte, so ist diese
Verbindung hier auseinandergebrochen; was bei Kant verbunden
war, erscheint jetzt als schärfster Gegensatz: Der Übermensch
und der letzte Mensch. Wir werden sehen, in welcher Beziehung
beide identisch sind. Doch unmittelbar nach diesen Texten
steht der erste Aphorismus zur Herrenmoral. (7(22))
Nietzsche findet insofern zur Synthese Kants zurück,
als er nicht Moral und Unmoral einander gegenüberstellt,
sondern die bestehende Moral einmal als Herrenmoral,
(7(22)) und dann als Sklavenmoral deutet. (7(23)) Beide Moralen,
wir müssen jedoch sagen, beide Deutungen stünden
bisweilen hart nebeneinander sogar im selben Menschen,
innerhalb einer Seele. (246/4f.) Herrenmoral
bedeutet: Die Moralwerte erhöhen das Selbstwertgefühl
des Moralischen. Im Allgemeinen bedeutet das moralische
Wertschätzen, daß sich eine höhere Art Mensch
gegen eine niedrigere als höhere bewußt wird.
(246/10ff.) Man beachte im Allgemeinen, also gibt
es noch keine spezielle Herrenmoral und damit
auch keine Sklavenmoral. Die moralischen Wertschätzungen
seien im Allgemeinen unter Aristokraten entstanden. (246/6f.)
Dies entspricht den Äußerungen von Kant in Ich
denke also bin ich nicht (1), in denen von der Selbstzufriedenheit
oder der wahren Glückseligkeit des vom Tugendbegriff
Geleiteten die Rede ist. Von hier ist es zur Vorstellung von
Aristokraten nicht weit.
Nach der Herrenmoral erfolgen Mitleid und Liebe
aus dem Gefühl der Fülle und des Überströmens:
reich genug, um dem Unglücklichen zu helfen. (247/6f.)
Die Herren helfen, nicht weil sie einem moralischen
Gebot gehorchen, sondern weil ein Bedürfnis zu Helfen
aus ihrer reichen Seele strömt. Die Sklavenmoral
ist zumindest hier keine andere Moral, sondern nur eine andere
Interpretation dieser innerseelischen Vorgänge, welche
die Autonomie der Herren durch die Heteronomie
der Sklaven ersetzt. Denn der Text über die
Sklavenmoral (7(23)) wird eingeleitet:
Wie müßte das Gleichartige in
der Moral aussehen, wenn die Schwächeren, Beherrschten
und Gedrückten moralisieren? (248/13ff.)
D.h. wie sieht die seelische Überlegenheit
der Mächtigen in den Augen derer aus, die
diese Moral anders interpretieren: Wer moralisch handelt,
folgt einem Gebot, vielleicht eines Gottes oder dem Einfluss
der Gattung, die den Einzelnen zu moralischen Handlungen anhält,
weil sie ihren eigenen Nutzen im Auge hat. Wer so denkt, stellt
die Autonomie des Moralisch Handelnden in Frage, schlägt
nach Kant dessen Mut nieder und löst dessen wahre Glückseligkeit
auf. Wer so denkt und Gebote befolgt, zählt nach Nietzsche
aber auch zu den Schwächeren, Beherrschten und
Gedrückten. Bei Nietzsche liest sich das dann so:
Wenn die Vergewaltigten, Gedrückten,
Leidenden, Unfreien, ihrer-selber Ungewissen, Müden moralisieren:
Was wird das Gleichartige ihrer moralischen Unterscheidungen
sein? ...
Ein abgünstiger Blick für die Tugenden der Mächtigeren:
feine Skepsis und Mißtrauen gegen alles Gute
wird dort geehrt und Verkleinerung des Glücks der Mächtigen
und des Lebens. Hervorkehrung der Eigenschaften, vermöge
deren sich Leidende das Leben erleichtern: Ruhm des Mitleidens,
aber aus andern Gründen, als wenn die Mächtigen
es rühmen (die Nützlichkeit ist der Grund)... (248/16-28)
Das Mitleiden, die Hilfe für den anderen,
erfolgt jetzt nicht aus dem seelischen Reichtum des Mächtigen,
sondern auf Grund eines Gebotes, hier der Gesellschaft, die
es nützlich findet, den Schwachen zu helfen. Zumindest
sehen das Die Sklaven so, die sich unterworfen
fühlen und deshalb in die niedere Ordnung gehören.
(235/21f.))
Der Gegensatz der beiden Moralen tritt später
auch in zwei aufeinanderfolgenden
Aphorismus hart aufeinander.
Die wohlwollenden, hilfreichen,
gütigen Gesinnungen sind schlechterdings nicht
um des Nutzens willen, der von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen:
sondern weil sie Zustände reicher Seelen sind,
welche abgeben können und ihren Wert als Füllegefühl
des Lebens tragen. Man sehe die Augen des Wohltäters
an! Das ist das Gegenstück der Selbstverneinung, des
Hasses auf das moi, des Pascalisme- (12/529)
Nach dieser einfühlsamen aber fragwürdigen
Darstellung der Herrenmoral
2 folgt dann ein Blick auf die Sklavenmoral.
2 Diese
Analyse müsste für alle Wohltäter gelten, also
auch für Sklaven.
Alles, was aus der Schwäche
kommt, aus der Selbstanzweiflung und Kränkelei der Seele,
taugt nichts: und wenn es in der größten Wegwerfung
von Hab und Gut sich äußerte. Denn es vergiftet
als Beispiel das Leben... Der Blick eines Priesters,
sein bleiches Abseits hat dem Leben mehr Schaden gestiftet
als alle seine Hingebung Nutzen stiften: solch Abseits verleumdet
das Leben... (ebenda)
Aber der Priester steht nicht einfach nur da,
er redet, er predigt Moral, die Moral der Selbstlosigkeit.
Wobei dieses Gebot ursprünglich von Gott erging. Aber
weder der jüdische Gott noch Christus wird
noch erwähnt, statt dessen werden der Priester und in
der Genealogie und im ersten Text zur Herrenmoral
die Juden genannt. Diese ganze Moral-Wendung
ist in Europa jüdisch. (249/5)
Weshalb ist also der jüdische Geist, Nietzsche
hat später gesagt, das Christentum, - er
hätte auch sagen können, der Geist der utilitaristischen
Ethik der Angelsachsen oder die Moral des kleinen Mannes,
der sich an Gebote hält, - für die Mächtigen
eine tödliche Gefahr? Gefährdet ist der Grundsatz
der Autonomie und das mit ihr verbundene Gefühl der wahren
Glückseligkeit, wie es bei Kant heißt, und
zwar durch die Erkenntnis, in der moralischen Handlung fremdbestimmt
zu sein, einem Priester, einem Gott der Schwachen oder einem
modernen Moralapostel, der auf die Nützlichkeit der Moral
für die Gesellschaft hinweist, zu gehorchen. So bildet
sich ein diffuses Gemisch aus Herde, Sklaven,
Volk, Priester, Christen
und Juden, die alle als revolutionär eingestuft
werden, weil sie die Mächtigen gefährdeten.
Aber die zentrale Rolle kommt den Juden zu, den Sklaven
Gottes, wie Nietzsche sagt, 3
die eine welthistorische Mission zu erfüllen haben. Denn
Gehorsam ist Sklavenmoral, und diese ist letztlich
gebunden an die klassische Formulierung der Zehn Gebote, also
an den jüdischen Gott, gegen den der deutsche
Denker sich erhebt, indem er nach den Vorbild Kants Du
sollst! durch ich will ersetzen möchte. So
kommt es zu dem Widersinn, dass Sklaven, die sich
unterworfen fühlen, die also gehorchen wollen,
einen Aufstand machen, den Sklavenaufstand in der Moral,
und dass das Christentum zu den revolutionärsten Kräften
gehört. Und diese von den Sklaven ausgehende
Gefahr ist um so größer, als selbstverständlich
Nietzsche selbst über seine Selbstüberwindungen,
über seine moralischen Handlungen als Denker reflektierte,
so dass sich die Herrenmoral immer wieder in Herdenmoral
verwandelte, was nur durch die Seelengleichheitslüge
möglich war, die Schlüsse von den anderen auf sich
selbst zuließ.
3 Im
Gegensatz zu den Griechen, KSA 9/88f., 9/141, 9/656f.
Nahm Nietzsche vielleicht, wie um dieser Selbsterkenntnis
vorzubeugen, die faschistische Umdeutung der Herrenmoral vorweg:
Autonomie als Unmoral, nicht nur als innerer Vorteil
des Stolzes (9/464) für die Herren, sondern verbunden
mit äußeren Vorteilen der Macht? Dass der Denker,
der sich mit der Diagnose Gott ist tot einen Namen
machte, sogar auf intellektueller Ebene mit dem Glauben an
Gott konfrontiert wurde, lag an einem biographischen Zufall.
Als Nietzsche seine Herrenmoral formulierte, setzt
er sich mit seinem jüdischen Freund Paul Rée auseinander,
der in VII 7(17) und 7(24) erwähnt wird. Er vertrat die
eigentliche Sklavenmoral, d.h. zunächst streng
genommen eine angelsächsische Nützlichkeitsmoral,
jedenfalls eine Gegenposition zur deutschen idealistischen
Tradition des Autonomie des Willens, wie sie Nietzsche hochhielt.
In der Vorrede (4) Zur Genealogie der Moral heißt
es über Paul Rée:
Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen
über den Ursprung der Moral etwas zu verlautbaren, gab
mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein,
in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen
Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Male
deutlich entgegentrat, und das mich anzog - mit jener Anziehungskraft,
die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische
hat. Der Titel des Büchleins war Der Ursprung der
moralischen Empfindungen; sein Verfasser Dr. Paul Rée..
Das Entgegengesetzte, Antipodische, die Gegenrasse,
wie es später heißen sollte, wird von Nietzsche
zumindest manchmal noch faszinierend empfunden. Es ist die
Gegenposition zur idealistischen Moralphilosophie, die Verneinung
der Autonomie des Willens, denn nach Rée hat alle Moral
den Nutzen der Gesellschaft zum Ziel, auch wenn dies von uns
vergessen wurde. Aber später hat Rée hinter dem
Nutzen der Gesellschaft Gottes, ja Christi Gebote
als Quelle der Moral entdeckt. Dies wird vor allem in seiner
zweiten Schrift, Die Entstehung des Gewissens (Berlin
1885), deutlich. Da heißt es schon im Vorwort: Die
Elemente, aus denen das Gewissen sich bildet, sind: 1) die
Strafe; 2) die Strafsanktion durch die Gottheit; 3) moralische
Gebote und Verbote. Im 3. Abschnitt Der historische
Ursprung moralischer Gebote und Verbote steht dann Jesus
im Zentrum: § 22. Die christliche Ethik.
Paul Rée war nicht nur beliebt und menschlich sympathisch,
er hat jahrelang im Engadin als Armenarzt gearbeitet. Seine
Schriften sind historisch gediegen, einer soliden Gedankenführung
verpflichtet, aber weder inhaltlich besonders originell, noch
sprachlich faszinierend, so dass er es mit dem in luziferischem
Glanz schillernden Nihilisten Nietzsche nicht aufnehmen konnte.
Dass er sowenig Anklang in Deutschland fand, liegt wohl auch
an seiner Einstellung zu den Fragen der Moral, die uns heute
vertrauter und sympathischer ist als die sogenannte Umwertung
aller Werte durch Nietzsche. Rée scheiterte u.a. an
seinem christlichen Pazifismus. Denn damals hatte
sich der deutsche Idealismus bereits so eng mit militärischer
Macht liiert, dass die Gefährdung der Herrenrasse
durch die jüdische Gegenrasse fast schon
verständlich wird.
2. Der Weg in den Nihilismus.
Dennoch war Nietzsche vielschichtiger, als dass man ihn einfach
als Immoralisten und
Gegner eines christlichen Pazifismus abstempeln könnte.
Wir erinnern uns:
Das Christentum hat... aus dem Ressentiment
der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen
uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen
unser Glück auf Erden... AC 43
Die Autonomie des Willens in der Moral sollte
von allem äußeren moralischen Zwang befreien und
damit eine bisher ungekannte Verinnerlichung der Moral, eine
tiefe, unlösbare Verbindung zwischen Moral und Individuum
erreichen; aber die weitere Entwicklung der deutschen Geistesgeschichte
nahm eine andere Richtung. Da gab und gibt es nämlich
eine bedenkliche Bruchstelle, die alles Reden von der Autonomie
des moralisch Handelnden in Frage stellt. Wenn nämlich
ein Krieg ausbricht, schlägt nicht unbedingt die Stunde
der Philosophen, denn dann stirbt sofort überall die
Wahrheit, bricht auf allen Seiten das Wertesystem rasend schnell
zusammen. Innerhalb des Staates galt und gilt das Töten
eines Menschen als schlimmstes Verbrechen. Aber im Krieg wird
möglichst effizientes Töten der Feinde zum obersten
Gebot für jeden Bürger in Uniform. Hier wird deutlich,
wie die Gesellschaft, ja sogar der Staat selbst die Moralgesetze
macht. Wem diese äußeren Bedingungen der Moral
von Anfang an bewusst sind, wer also nur partielle Lebensregeln
anerkennt, wie Kant abfällig bemerkte, wird die Konsequenz
ziehen, die Bedingungen der Moral verändern zu wollen,
also möglichst dem Krieg durch Überwindung der staatlichen
Souveränität für immer den Boden entziehen.
Da Kant diesen Schritt in seiner pazifistischen Schrift Zum
ewigen Frieden selbst gefordert hat, wusste er offensichtlich
mehr über die empirischen Bedingungen der Moral, als
seine Schriften zur Ethik und deren heutige Ausleger vermuten
lassen. Und ich möchte diesen philosophischen Entwurf
als Diskussionsbeitrag eines Starken bezeichnen,
um mit Nietzsche zu sprechen, weil er sich damit der herrschenden
Meinung entgegenstellte und die Absicht bekundete, die Welt
im positiven Sinn verändern zu wollen. Wenn aber die
Verbindung von Moral und Selbstwertgefühl schon zu tief
war, dann drohte die Flucht in die entgegengesetzten Wertungen,
zumal die deutsche Philosophie mit Ausnahme Kants oder des
unpolitischen Schelling fast generell von Hegel bis zu Scheler,
den Krieg verherrlichte.
Nietzsche, der als Sanitäter 1870/71 die Gräuel
des Krieges erlebte, dokumentierte die
nihilistische Krise, die in den Faschismus führen sollte.
Und der Antichrist fand nicht
zufällig in den Schriften eines großen Dichters
und Pazifisten Bruchstücke seines eigenen
Bekenntnisses:
Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen
zu töten oder auch nur zu peitschen oder auch nur zu
- aber der ungeheure Wahnsinn im Staat überwältigt
den Einzelnen, so daß er die Verantwortung für
das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.)...
Der Staat als die organisierte Gewalttätigkeit...
(KSA13/97)
Erst Montinari hat erkannt, dass es sich bei
diesen Aufzeichnungen des Nachlasses um
Texte Tolstois handelte. Aber wer vom Gedanken der Autonomie
des Willens in der
Moral wie von einem Rauschmittel verdorben ist, wird keinem
geistig-moralischen
Führer folgen, weder einem berühmten russischen
Dichter, noch Jesus Christus.
Der ganze Idealismus der bisherigen
Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen.
(12/313)
Nihilismus bedeutet: Flucht in die Unmoral,
in die entgegengesetzten Werte.
Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen
müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen
zu sein, wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben
ließ - wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch
ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten
Wertungen, mit dem gleichen Maße von Energie, mit dem
wir Christen gewesen sind... (13/69)
Über die entgegengesetzten Werte hat er
sich an anderer Stelle deutlicher geäußert:
Ich fürchte, es ist immer die Circe
der Philosophen, die Moral, welche ihnen diesen Streich
gespielt hat, zu allen Zeiten Verleumder sein zu müssen...
denn dieses Dasein ist unmoralisch ... Und dieses Leben
beruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint
das Leben. (13/319)
Hieraus resultieren Nietzsches bekannte Angriffe
auf die christliche Moral. Wenn er sich aber, um aus der nihilistischen
Falle auszubrechen, notiert: Die Stärksten überwinden
die richtenden Werte, (12/397) zeigt er eine schwache
Stelle, an dem die Widerlegung seiner Philosophie einsetzen
könnte.
3. Das Geständnis
des verrückten Denkers.
In Goebbels Brandrede Wollt ihr den totalen Krieg?
war noch ein letzter Rest von Rationalität.
Also war die Revolution gegen Gott noch nicht auf den Höhepunkt
gelangt.
Für den Endsieg konnte man außerdem noch beten.
Also wussten alle Beteiligten noch,
dass sie nicht allmächtig waren. Aber ich, Friedrich
Nietzsche, habe diese Revolution
noch weiter getrieben. Solange ich noch etwas Bestimmtes will,
werde ich das Gewollte
für gut erklären und das Nicht-Gewollte für
schlecht oder für böse, je nachdem. Aber
könnte die Menschheit nicht endlich jenseits von Gut
und Böse gelangen? Könnte sie
nicht aus Geringem, Verachtetem Gold machen, 4
Leiden in Lust verwandeln, also selbst
die Gräuel der Nächte mit den Verwundeten im Krieg
1870 gut finden, wünschenswert,
sie wiederholen wollen, und nicht nur einmal, sondern immer
wieder, ewig. 5 Das Grauen
als Lust empfinden, es so inständig zu wollen, wie der
normale Mensch die orgiastische
Lust im Koitus will, denn jede Lust will Ewigkeit, will
tiefe, tiefe Ewigkeit! Oder
nimm Auschwitz, nimmt Hiroschima. Ist die Haltung eines Theologen
nicht zutiefst
widersprüchlich, ja lächerlich, wenn er einerseits
vom unsagbaren Grauen in den
Höllen der Moderne spricht und dann unmittelbar danach
von einem guten, liebenden
Gott, der alles dies, wenn schon nicht selbst bewirkt, so
doch zumindest zugelassen
hat. Wir sehen, Güte und Allmacht schließen sich
gegenseitig aus. Welchen Fehler
macht der arme Mann in seiner Predigt? Er ist nicht stark
genug, um die richtenden
Werte zu überwinden. Was heißt das? Das heißt
das Grauen als Lust empfinden, die
man immer wiederhaben, die man am liebsten immer wieder selbst
auslösen würde, in
der göttlichen Allmacht eines neuen, unmoralischen Gottes.
Denn nur der unmoralische
Gott ist nicht überwunden. 6
Und der neue Gott entsteht in mir, ich fühle den gottbildenden
Instinkt in mir selbst, 7 Ich,
der letzte Jünger des Philosophen Dionysos.
8
4 An Georg
Brandes, 23.5.1888
5 Fröhliche Wissenschaft
341
6 Im Grunde ist ja nur
der moralische Gott überwunden. KSA 12/213
7 - Und wie viele neue
Götter sind noch möglich! ... Mir selber, in dem
der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt
mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden
hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart.
KSA 13/525f.
8 Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden
Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der
Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel
zum Begriff des tragischen Gefühls... Das Jasagen zum
Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten
Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten
Typen der eigenen Unerschöpflichkeit frohwerdend - das
nannte ich dionysisch, das erriet ich als die
Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht
um von Schrecken und Mitleid loszukommen... sondern um über
Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst
zu sein, - jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten
in sich schließt... Und damit berühre ich wieder
die Stelle, von der ich einstmals ausging... ich, der letzte
Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der
ewigen Wiederkunft. (Götzendämmerung, Was ich den
Alten verdanke 5, KSA 6/160)
Und gegen mich richtet sich der Sklavenaufstand
in der Moral. Denn der Mächtige ist der höchste
Wertbestimmer. (248/5) 9
Jetzt wird das Verkehrte meiner Weltanschauung klar, dass
sich der Sklavenaufstand des Christentums gegen die Mächtigen
richte, das Christentum also revolutionär sei. Statt
Die Mächtigen müsst ihr im Text Der
Mächtige einsetzen, womit ich, Nietzsche, selbst
gemeint bin. Der Genius der Gattung 10
hat mich gezwungen, meine Egozentrik zu verbergen, um verstanden,
genauer missverstanden zu werden. Und jetzt lesen wir den
ersten Text über die Sklavenmoral neu. Wie
müsste das Gleichartige in der Moral aussehen, wenn die
Schwächeren, Beherrschten und Gedrückten, ... Unfreien,
Ihrer-selbst-Ungewissen, Müden moralisieren? (248/13ff.)
Beherrscht sind sie vom absoluten Gegensatz von Gut und Böse.
Also sind sie auch schwächer. Aber sie sind auch gedrückt,
wenn ich an den Theologen denke, der nach Auschwitz und Hiroschima
von Gottes Güte redet. Die Führer der Ihrer- selbst-Ungewissen
aber sind die Juden, 11 die
Erfinder des alten Gottes. Aber wie werden sie über die
Tugenden dieser Mächtigen, d.h. über mich selbst
in meiner Macht und Allmacht urteilen? Was wird das
Gleichartige ihrer moralischen Unterscheidungen sein? Wahrscheinlich
wird ein Argwohn zum Ausdruck kommen; vielleicht eine Verurteilung
des Menschen mitsamt seiner Lage. (248/17ff.) Dieser
Satz wird erst jetzt verständlich. Der Pfarrer, der die
richtenden Werte nicht überwindet, Auschwitz und Hiroshima
also nicht dionysisch bejahen kann wie ich und trotzdem noch
den Glauben an einen gütigen Gott predigt, ist nicht
nur verwirrt sondern ein unverbesserlicher Pessimist obendrein.
Aber alle Vernünftigen, alle Herdentiere,
die Gut und Böse noch nicht überwunden haben, schließen
sich den Juden und den Priestern an. Ein abgünstiger
Blick für die Tugenden der Mächtigeren: feine Skepsis
und Mißtrauen gegen alles Gute wird dort
verehrt und Verkleinerung des Glücks der Mächtigen
und des Lebens. (248/21ff.)
9 Ich zitiere den 10. Band der
KSA, Seiten und Zeilen
10 Fröhliche
Wissenschaft 354
11 Nietzsche
hat die Sklaven Gottes für den Trieb
nach Gewissheit außer uns verantwortlich gemacht,
für das Bedürfnis nach einem festen Halt:
- Die Juden hatten diese Verachtung von sich selbst
und vom Menschen überhaupt! (9/370f.)
Die Sklaven verleumden das Leben, das zwischen
Gut und Böse niemals trennt. 12
Aber
schlimmer noch, sie zweifeln an meiner Tugend und sogar an
meinem Glück. Sie zweifeln,
ob ich wirklich stark, und nicht in Wahrheit schwach, ja erbärmlich
schwach und
antriebslos bin. Denn wer nicht mehr zwischen gut und böse
unterscheiden könne, wisse
nicht, wofür oder wogegen er kämpfen soll. Wenn
Sie Recht hätten, hätte das Ich
denke - also bin ich nicht erst in mir eine einleuchtende
Bestätigung gefunden. Der Übermensch
gliche dann trotz seiner Macht- und Allmachtgefühle dem
letzten Menschen.
Der Immoralist könne sich nicht verteidigen.
13 Wie wollte er sich gegen die Naumburger Tugend wehren,
gegen seine Schwester, die sich gegen ihren bösen
Bruder als Vorkämpferin des Guten aufzuspielen beliebte?
Ich litt unter der Angst vor einer Entladung furchtbarer Affekte,
wobei ich bei weitem am meisten das Opfer sein würde.
(An Overbeck, 26.8.83) Was tun gegen diesen unerbittlichen,
mich zermalmenden Aufstand der Sklaven, der Herde, der Masse?
Ich habe meine Wahnsinnsbriefe abwechselnd mit
Dionysos und Christus unterschrieben, als ob ich zwischen
beiden nicht mehr unterscheiden könnte. War der unmoralische
Dionysos nicht ebenso wehrlos wie Christus? Vielleicht war
er sogar noch viel schlimmer dran, ohne Hoffnung wehrlos der
Menschheit ausgesetzt. Ich rette mich vor meinen Zweifeln
in die Vorstellung immer gewaltigerer Macht, um die Quälgeister
irgendwann dann doch zum Schweigen zu bringen. Mit meiner
letzten Aufzeichnung vollendet sich der Aufstand gegen Gott
oder die Philosophie des deutschen Idealismus: Letzte
Erwägung.... Kurz und gut, sehr gut sogar: nachdem der
alte Gott abgeschafft ist, bin ich bereit, die Welt zu regieren.
(KSA 13/646)
12 Und
selbst hier noch behält das Leben recht - das Leben,
welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß - : was
hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse
zu halten, nicht schaden, nicht Nein tun zu wollen! Man führt
doch Krieg! Man kann gar nicht anders. 13/473
13 Das
Peinlichste für mich ist, mich verteidigen zu müssen...
KSA 9/244
4. Schlusswort des Autors
von Nietzsche kontra Nietzsche.
Was Nietzsche nicht bewusst wird, ist die wahre Identität
seines Feindes. Nietzsches
Fluch auf das Christentum gilt ebenso wie die
Polemik gegen den Sklavenaufstand und gegen die
Juden in Wahrheit seiner ersten Philosophie, was ich
in Nietzsche kontra Nietzsche entwickelt habe.
Dazu nur ein Beispiel. In dem am Tage des Heils, am
ersten Tag des Jahres Eins ( - am 30. September 1888 der falschen
Zeitrechnung) gegeben Gesetz wider des Christentum
heißt es:
Erster Satz - Lasterhaft ist jede Art
Widernatur. Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester:
er lehrt die Widernatur. Gegen den Priester hat man
nicht Gründe, man hat das Zuchthaus. Zweiter Satz
- .... Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem Maße
zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher
der Verbrecher ist folglich der Philosoph. (KSA6/254)
Wie ist dieser verrückte Text zu verstehen?
Um den Aufstand gegen den guten Gott zum Sieg zu führen,
wollte Nietzsche alles Unangenehme, Widrige, Schmerzliche
dionysisch bejahen. Er glaubte sogar Schmerz in Lust verwandeln
zu können, so dass er im Antichrist Jesus
selbst herausforderte:
Wenn der Verbrecher selbst, der einen schmerzhaften
Tod leidet, urteilt: so, wie dieser Jesus, ohne Revolte,
ohne Feindschaft, gütig, ergeben, leidet und stirbt,
so allein ist es das Rechte": hat er das Evangelium bejaht:
und damit ist er im Paradiese.. 13/154
Jesus erscheint als das Vorbild, dennoch ist
der Satz Ist er im Paradiese gegen den Jesus-
Satz gesprochen: Wahrlich, ich sage dir: Heute noch
wirst du mit mir im Paradiese sein.
(Luk 23,43)
Wer sich wie Nietzsche vorstellt, mitten in den Qualen der
Kreuzigung das Paradies schon hier auf Erden erleben zu können,
so dass sich für ihn das verhießene Leben im Jenseits
erübrigen würde, setzt sich in der Praxis des Alltags
allen Taktlosigkeiten, Unverschämtheiten, ja selbst der
Bösartigkeit und dem Sadismus seiner Mitmenschen wehrlos
aus. So blieb dem dionysischen Denker nur die Flucht in seine
Einsamkeit. So lange er in seiner Bergwelt verschanzt war,
konnte er niemals hoffen, seine Philosophie allgemein durchsetzen
zu können. Aber zuletzt will er die Weltgeschichte spalten
und eine neue Zeitrechnung einführen. Was ist da geschehen?
Nietzsche ließ seine Triebe gegen seine eigene Philosophie
des Jenseits von Gut und Böse rebellieren, die ein widernatürliches
Bewusstsein produziert hatte. So entstand durch die Triebe,
vor allem durch den Aggressionstrieb, ein zweites Bewusstsein,
welches das erste des widernatürlichen Jenseits von Gut
und Böse als feindliche Macht um so erbitterter bekämpfte,
als die eigene Identität eine gefährlichere Bedrohung
darstellt, als jeder noch so schlimme aber wenigstens außen
stehende Feind.
Gehen wir kurz auf das Gesetz wider das Christentum
ein. Der Priester ist die lasterhafteste Art Mensch, denn
er lehrt die Widernatur. Da der Philosoph noch verbrecherischer
ist, - er wird der Verbrecher der Verbrecher genannt - ist
er offensichtlich noch lasterhafter, noch widernatürlicher.
Das kann, ja muss man trotz dieses Widerspruchs wörtlich
nehmen. Welchen Philosophen hat Nietzsche denn gekannt? Der
Verbrecher der Verbrecher ist der dionysische Philosoph des
Jenseits von Gut und Böse, denn diese Philosophie lehrte
wie keine andere die Widernatur. Diese Lehre
ist widernatürlicher als alles, was jemals aus Priestermund
kam. Dass es vielen schwerfallen wird, diese Entdeckung des
Nietzsche kontra Nietzsche nachzuvollziehen, liegt an der
Struktur eines von der idealistischen Philosophie noch weiter
verfestigten Denkens, das im Ich eine letzte Einheit sieht.
Das Wort Individuum ist die lateinische Entsprechung zum griechischen
atomon, was das Unspaltbare bezeichnet. Doch der Satz Ich
denke, also bin ich gilt nicht nur für Nietzsche nicht.
Die Entdeckung der Selbstpolemik in Nietzsches Philosophie
kommt der Kernspaltung in der Philosophiegeschichte gleich,
die ungeahnte neue Perspektiven eröffnen wird.
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